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Was ist so schlimm an Winterhoff? - Eine kritische Analyse des Buches "Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden"

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Vor etwa eineinhalb Jahren fragte eine Userin in meinem Lieblingsforum: "Was ist eigentlich so schlimm an Winterhoff?", nachdem es eine Menge Autor-Bashing in mehreren Threads gegeben hatte. Sie hatte seine Bücher noch nicht gelesen und fragte sich, womit er eine solche Behandlung verdient hatte. Da ich bis dahin bis auf ein paar kurze Zeitungsartikel auch noch nichts von ihm gelesen hatte, enthielt ich mich damals einer Antwort. Stattdessen borgte ich mir sein erstes Buch und begann zu lesen. Schnell hatte ich es durch. Es zu "verdauen" dauerte wesentlich länger. Liebe X., hier ist nun meine Antwort auf deine Frage. Dieser Artikel ist für dich.
 

1. Das Buch positioniert sich nicht stark genug gegen den "erzieherischen Klapps"

 
"Vielfach ist derzeit eine radikale Umkehr zu beobachten. Erziehungsratgeber empfehlen zunehmend mehr Strenge und Konsequenz in der Erziehung, der berühmte "Klapps auf den Hintern" ist wieder diskussionsfähig geworden, wobei die derzeitige Tendenz häufig genug dahin geht, dass eben jener "noch niemandem geschadet habe". Eine derzeit durchaus salonfähige Feststellung, die, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist, noch vor nicht allzu langer Zeit für Empörung gesorgt hätte." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 16f]
Dazu brauche ich gar nicht viel schreiben - der Autor positioniert sich hier nicht eindeutig gegen den Klapps als Erziehungsmittel. Über seine Gründe möchte ich nicht munkeln. Fest steht für mich: Jemand, der nicht ganz klar schreibt, dass physische (und psychische) Gewalt und elterliche Liebe einander ausschließen und daher der Klapps und andere antiquierte Methoden der schwarzen Pädagogik in der Eltern-Kind-Beziehung absolut nichts zu suchen haben, disqualifiziert sich in meinen Augen sofort selbst als Rat-Geber.
 

 

2. Das Buch unterstützt Standesdünkel unter Eltern und schürt die so genannten Mommy Wars


"Arndt, 8 Jahre, berichtet mir lehrbuchartig seine Tricksereien, die er benutzt, weil er nicht aufräumen möchte. Zunächst fordert ihn die Mutter auf, im Wohnzimmer aufzuräumen, daraufhin geht er hoch ins Kinderzimmer. Wenn die Mutter ihm ins Kinderzimmer folgt, geht er runter in den Keller. Wenn die Mutter ihm in den Keller folgt, geht er wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich frage grundsätzlich immer wieder nach: "Und dann räumst du deine Sachen auf?" Antwort: "Nein, nein, dann gehe ich erst noch in den Garten." Ende vom Lied ist: Arndt räumt gar nicht auf, sondern seine Mutter macht es. Der Grund für die Vorstellung in der Praxis ist, dass die Mutter sich große Sorgen wegen der hohen Ängstlichkeit ihres Sohnes macht. Er traue sich bedauerlicherweise auch nicht, in der Schule (2. Klasse) den Vormittag ohne seine Mutter im Klassenraum zu verbringen. Also sitzt die Mutter den gesamten Schulvormittag neben ihm." [Winterhoff, M., 2009: 66f]
Dieses Beispiel habe ich willkürlich aus dem Buch herausgefischt - es hätte auch ein völlig anderes sein können. Sie gleichen sich insofern, als dass sie alle Verhaltensweisen von Kindern aufzeigen, die wirklich alle Menschen schon einmal erlebt haben (z. B. dass das eigene Kind nicht aufräumen will), diese dann aber so überspitzt beschreiben, dass sich wiederum niemand wirklich angesprochen fühlen muss, da es so schlimm bei einem selbst ja dann doch nicht ist (im Klassenraum dabei sein müssen). Das ist ein cleverer Schachzug vom Autor, da er es so schafft, die Leser zu ihm ins Boot zu bringen - zumindest vom Hörensagen kennt doch jeder ein Kind, das so wie von ihm beschrieben von der Norm abweicht, nicht wahr? Gemeinsam können nun Leser und Autor ob des psychischen Verfalls der heutigen Kinder traurig den Kopf schütteln und der guten alten Zeit nachtrauern, in der es "so etwas" noch nicht gab. Die lesenden Mütter und Väter können sich gleichzeitig noch selbst stolz auf die Schulter klopfen, weil ihnen das Buch die Bestätigung gibt, es selbst nicht so falsch wie andere Eltern zu machen.

Und da kommen die Mommy-Wars ins Spiel. In denen geht es ja immer darum, dass die eine Seite denkt, sie mache es viel besser, als die andere Seite und das Resultat würde sich spätestens dann zeigen, wenn die fremden Kinder als depressive, obdachlose Penner auf der Straße leben, weil sie als Kind nicht im Tuch gebunden an elterlicher Brust schlummern durften oder wahlweise zu egozentrischen Muttersöhnchen heranwachsen, die sich bis in die späten Dreißiger von ihren Eltern als faule Studenten aushalten lassen, weil sie damals langzeitgestillt und familiengebettet wurden. Das Buch bestätigt diese albernen Klischees und weitet die Kluft zwischen den Eltern da draußen.

Nachdem ich das Buch gelesen hatte, fielen mir auf den Spielplätzen plötzlich unglaublich viele "ungezogene" Kinder auf, solche, die prima ins Winterhoff'sche Schema passten. Mein Blick war nun defizitorientiert und ich schüttelte innerlich den Kopf über die vielen unfähigen Eltern, die ich sah. Ich war plötzlich nicht mehr offen genug, zu erkennen, dass diese Situationen auf den Spielplätzen oder im Supermarkt nur Momentaufnahmen vom Leben dieser Mütter und Väter waren. Ich kannte weder den Tag, den diese Eltern davor hatten, ich wusste nicht, ob sie in der Nacht geschlafen hatten und schon gar kannte ich sie gut genug, um zu wissen, ob sie nicht vielleicht sonst die geduldigsten Eltern aller Zeiten waren, aber nun an Migräne litten und einfach nur nach Hause wollten.

Dass ich in der Winterhoff'schen Sichtweise gefangen war merkte ich erst, als mich beim Babyturnen eine Mutter ganz nett darauf ansprach, sie hätte mich am Samstag mit meinen Kindern im Museum gesehen - ich hätte ziemlich angespannt gewirkt. Mein erster Gedanke war: "Mist, ausgerechnet da hat mich jemand erkannt!", aber dann konnte ich doch lächeln und erzählen, was für ein Höllentrip dieser Museumsbesuch für alle gewesen war: Mir war heiß gewesen, weil das schlafende Baby im Schneeanzug in der Trage an mir hing, meine Töchter waren müde, weil wir gerade in dieser doofen Mittagsschlaf-Abschaff-Phase sind. Es waren Ferien und dementsprechend war es brechend voll - niemand konnte sich in Ruhe etwas angucken, weil immer gleich andere Familien drängelten. Außerdem hatte ich das Museum ungünstig ausgewählt - meine Töchter mochten zwar das Dinosaurierskelett im ersten Raum, waren aber angesichts von ausgestopften Vögeln, Eisbären und Tigern nicht beeindruckt, sondern gelangweilt. Ich hatte Angst, dass das Baby überhitzt und ärgerte mich, ihn nicht ausgezogen zu haben, aber ich hatte ihn nicht wecken wollen. Eine Tochter musste pullern, aber die Toiletten waren zu voll, die andere Tochter hatte Hunger, durfte aber im Museum nichts essen.

Ich war vollgepackt wie ein Esel, weil ich alle Klamotten trug, da ich nicht bei der Garderobe hatte anstehen wollen. Zu sehen war also eine schwitzende Frau mit zur Faust geballtem Gesicht, Baby vorm Bauch, Rucksack auf dem Rücken, an jeder Hand eine nölende und eine weinerliche Vierjährige, welche sich vor lauter Müdigkeit durch die Säle zerren ließen. Ich wollte nur noch raus, raus, raus! Nein, in diesem Moment war ich keine souveräne Mutter... Als ich diese Szene beim Babyturnen Revue passieren ließ, merkte ich plötzlich, dass ich mir, hätte ich mich selbst im Museum gesehen, bestimmt das Label "schlechte Mutter" gegeben hätte. Ich erschrak darüber, weil ich eigentlich die meiste Zeit eine ganz gute, freundliche und zugewandte Mutter bin - ich verstand, dass ich mir einen zu kritischen Blick angewöhnt hatte, was andere Mütter anging. Wir alle haben stressige Situationen, in denen wir nicht optimal reagieren. Manchmal reagieren wir sogar regelrecht blöd, und wissen es, und können es in dem Moment trotzdem nicht ändern. Aber das macht uns nicht zu schlechten Müttern, nur zu echten.

Liest man Winterhoff, wird dieser kritische Blick auf andere bestätigt und bestärkt. Ich weiß nicht, ob der Autor das absichtlich macht, aber er müsste als Psychiater eigentlich wissen, dass er mit seinen Beispielen eine psychologische Kettenreaktion auslöst, die alte Kindheitstraumata triggert und als Abwehrreaktion das Schlechtmachen anderer Eltern hervorruft.
"Kein Mensch hätte Interesse, andere zu verfolgen und schlecht zu machen, wenn er nicht auf narzisstischer Kränkungswut wie auf einem Pulverfass sitzen würde. Die Verleumdung gelingt am besten, wenn man den Sündenbock gar nicht persönlich kennt. Wenn jemand so andauernd abwertend über andere spricht, dann dient das zur Abwehr der eigenen narzisstischen Verletzung. Wenn andere "etwas schlecht machen", ist man automatisch relativ besser, weil man es anders macht - das gehört zur notwendigen Regulation des Selbstwertes, ermöglicht jedoch keine Befreiung. Die in der frühen Kindheit selbst erlittende Kränkung wird lediglich destruktiv ausagiert und weitergegeben." [Maaz, H.J., 2012, 49].
Das bedeutet, dass Eltern, die selbst als Kinder in den ersten drei Lebensjahren keine echte qualitative innere Zuwendung von ihren Eltern erfahren haben, einen entwicklungspsychologischen Mangel erlitten haben - ihre primäre narzisstische Sättigung ist ungenügend. Nach außen hin kann das Kind bestens versorgt gewesen und in einer "heilen" Familie aufgewachsen sein, ja, der Erwachsene erinnert sich sogar meist an eine glückliche Kindheit. Wenn sich jedoch seine primären Bezugspersonen nicht die Mühe gemacht haben, empathisch auf  ihn als verzweifelt schreiendes Baby, als unglücklich tobendendes Kleinkind einzugehen; wenn seine Signale nach Hunger, Durst, Kuscheln, Schlafen etc. überhört wurden und stattdessen nach von anderen festgelegten Strukturen befriedigt wurden - dann musste sich das Kind, das heute ein Erwachsener ist, emotional anpassen um zu überleben. Die Kinder erspüren ganz genau, was ihre Eltern von ihnen wollen und passen ihr originales Selbst an diese Wünsche an. Ich hatte das in diesem Artikel schon einmal ausführlicher erklärt.

Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein lebenslang anhaltender Prozess der Entfremdung zu sich selbst. Die von den eigenen Eltern nicht positiv gespiegelten Verhaltensweisen des originalen Selbst werden tief im Inneren weggeschlossen. Sie sind aber nicht weg - sie bleiben im Menschen bestehen. Kratzt nun ein Fremder - eine andere Mutter im Pekip Kurs oder auf dem Spielplatz beispielsweise - mit Worten oder Taten an diesem originalen Selbst, das nicht sein durfte, weil die eigenen Eltern es nicht liebten, dann löst das einen so unerträglichen und bedrohlichen Mangelschmerz aus, dass "zurückgeschlagen" werden muss. Das erklärt, warum die Mommy-Wars  oft so extrem ausarten. Statt zuzulassen, dass andere Mütter andere Wege haben, wird sich aus (frühkindlicher) narzisstischer Kränkung heraus im eigenen Tun als einzig wahre Wahrheit verbissen. Es tut einfach zu sehr weh, zu erkennen, dass das, was einem das eigene Bauchgefühl als richtig suggeriert, vielleicht gar nicht richtig ist und man unwissentlich seinem eigenen Kind so geschadet hat, wie man selbst beschädigt wurde. Aus gleichem Grunde reagieren unsere Eltern und Schwiegereltern oft so pikiert auf unseren abweichenden Erziehungsweg.
 
Das "Zurückschlagen" aus eigener Betroffenheit geschieht oft mit einem scheinbar starken Selbstbewusstsein: da wird verhöhnt, klein geredet und ins Lächerliche gezogen. Es ist schwer, sich als friedliebender Mensch davon nicht beeindrucken zu lassen. Doch je vehementer sich die Mutter oder der Vater dir gegenüber in Rage redet, je mehr Hass in Online-Diskussionen versprüht wird, je sarkastischer jemand deinen Weg kommentiert, desto stärker kannst du davon ausgehen, dass bei diesem Menschen im Inneren ein kleines fremdgewordenes Kind ungehört weint, welches sich genau das von seinen Eltern gewünscht hätte, was du deinen Kindern gerade gibst.

Doch sich das einzugestehen lässt die narzisstische Abwehr auf keinen Fall zu. So schwer es mir manchmal fällt: Ich begegne diesen verletzten und verletzenden Menschen mit aller Empathie, die ich aufbringen kann. Ich versuche, zu verstehen, was den Hass treibt, und das hilft mir, nicht ebenso verbohrt zurückzuhassen, sondern Nachsicht walten zu lassen. Ich weiß, dass die narzisstische Kränkung so tief geht, dass ich mit meiner Empathie nichts ausrichten kann - oft verschlimmert echtes Mitgefühl die Situation sogar noch. Aber immerhin schützt es mich davor, selbst wütend zu werden. Ich kann es nicht oft genug schreiben: Jedes Verhalten hat einen Grund! - Auch bei Erwachsenen.

Welchen persönlichen Grund Winterhoff hatte, sich diese psychologische Wirkungsweise des frühkindlichen Liebes- und Bestätigungsdefizits in seinem Buch zu Nutze zu machen, wird mir allerdings ein ewiges Rätsel bleiben, wenn ich ihm nicht Böses unterstellen will. Im Prinzip agiert er mit seinen Zeilen haargenau so wie ein Eltern-Troll in einem Online-Forum: Er macht andere Eltern schlecht, um sich selbst zu erhöhen. In einer endlosen Zurschaustellung von Beispielen schlechter Eltern hebt er mahnend den verbalen Finger und kreischt "Das Ende ist nah!"; er, der er als einziger erkannt hat, an welcher Störung die heutige Gesellschaft erkrankt ist. Wenn wir doch nur alle auf ihn hören würden, wären die gestörten Psychen unserer Kinder vielleicht doch noch zu retten.
 
Er schreibt:
"Wer in seinem Bekanntenkreis Lehrer, Kindergarten-Erzieher oder anderweitig pädagogisch tätige Menschen hat, kennt zur Genüge die Klagelieder über die scheinbar hoffnungslose Lage bei Kindern und Jugendlichen. Diese erscheinen zu einem großen Teil als respektlos und ohne jede Orientierung an allgemein verbindlichen Werten und Normen. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um Kinder aus intakten Familien, bei denen die üblichen Erklärungsmuster wie "schwierige Kindheit", "kaputte Familie" oder "ungünstiges soziales Umfeld" nicht greifen. Schwierigkeiten bereiten zunehmend Kinder und Jugendliche, deren Eltern vom ersten tag an liebevoll mit ihnen umgehen, für jeden gut gemeinten Erziehungsratschlag dankbar sind und innovative pädagogische Konzepte in die Tat umzusetzen versuchen. [...] Die Reaktion, die innerhalb der Gesellschaft in der vergangenen Zeit auf dieses Phänomen zu beobachten ist, setzt in der Hauptsache auf eine Pädagogikdebatte. [...] Ich verfolge demgegenüber einen grundlegend anderen, und vor allem neuen Gedanken, um in der Sackgasse der aktuellen Debatte kehrt zu machen und nach neuen Wegen zu suchen, die schließlich auch zu sinnvollen pädagogischen Bemühungen führen können." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 15ff]
So richtig neu ist seine Lösung dann aber gar nicht, auch, wenn er diese mit einer Menge für Laienohren wissenschaftlich klingender Termini zu untermalen versucht. Letzten Endes ist seine These auf ein kurzes Zitat komprimierbar:
"Worum es geht, ist, zu verstehen, dass sich die unterschiedlichen Symptome scheinbar erziehungsresistenter Kinder und Jugendlicher auf eine gemeinsame Sache zurückführen lassen, nämlich fehlende psychische Reife. [...] Das bedeutet: Kinder müssen wieder als Kinder gesehen werden. Heute sind wir dazu übergegangen, sie uns als kleine Erwachsene ebenbürtig zu machen und damit restlos zu überfordern." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 18f]
Weil wir also unseren Kindern einen gewissen Entscheidungsfreiraum geben und nicht, wie frühere Generationen einfach über die Köpfe unserer Kinder hinweg entscheiden, gibt es laut Winterhoff so viele "gestörte Kinder." Dieses Argument  wiederholt er eifrig, damit es auch ja beim Leser ankommt. Und da wären wir schon bei meinem dritten Kritikpunkt an das Buch: 

 

3. Das Buch weckt tiefverwurzelte Ängste bei den Eltern, aus lauter Fürsorge das eigene Kind doch zu verwöhnen


"Claudia ist fünf  Jahre alt, sie wird in der Regel morgens in den Städtischen Kindergarten gebracht und mittags wieder abgeholt. [...] Die Tür öffnet sich, Claudia kommt als eins der ersten Kinder aus dem Gruppenraum gestürzt und entdeckt sofort zu ihrer erkennbaren Freude, dass ihre Mutter bereits eingetroffen ist. Sofort entspinnt sich ein Spiel: Claudia läuft auf die Mutter zu und hält ihr den ausgestreckten Arm entgegen, um ihr damit einen imaginären Muffin zu servieren, den sie nach stolzem Bekunden extra für die Mama gebacken hat. Die Mutter geht auf das Spiel der Tochter ein, bückt sich zu ihr nach unten, bedankt sich für den schönen, leckeren Muffin und ... beißt rein. Diese Handlung hat dramatische Auswirkungen: Claudia ist einem Schock nahe, denn der Biss in den Muffin gehörte nicht zu ihrem Plan von Ablauf des Spiels, sie hatte vielmehr ihrer Mutter das Gebäck geben wollen, damit diese es gemütlich daheim vertilgt. Die Reaktion des Kindes hat es in sich: Claudia beginnt nicht nur zu weinen, sie wirft sich gleichzeitig auf den Boden und ruft immer wieder laut, die Mutter habe doch den Muffin auf keinen Fall bereits jetzt anbeißen dürfen. Das Kind ist etwa 15 Minuten lang nicht ansprechbar, übertönt Beschwichtigungsversuche mit lautem Schluchzen und wehrt sich gegen körperliche Annäherung durch Strampeln und Schlagen. dann hat die Mutter die rettende Idee: Sie kann Claudia glaubhaft machen, dass sie ja nur einmal in das Gebäckstück gebissen habe und folglich den Rest noch in den Händen halte. Also könne man diesen ja mit nach Hause nehmen, und zu einem von Claudia festzulegenden Zeitpunkt werde der Muffin dann gegessen. Das Kind akzeptiert zwar diesen Vorschlag, nicht jedoch, ohne die Mutter darauf hinzuweisen, dass so etwas aber keinesfalls noch einmal vorkommen dürfe. Als Mutter und Tochter den Kindergarten schließlich verlassen, trägt die Mama sowohl den Rucksack als auch die Jacke ihrer Tochter. Und natürlich auch den imaginären Muffin!" [vgl. Winterhoff, M., 2009: 40f]
Sicher ist dir als kritischem Leser gerade aufgefallen, dass Winterhoff auch bei diesem überspitzen Beispiel sehr schlau Situationen miteinander verquickt, die wir als Eltern alle durchaus kennen (Wutanfall, weil wir in den Augen unserer Kinder etwas "falsch" gemacht haben), aber in solcher Dramatik Gott sei Dank noch nicht erlebt haben (Mutter sucht untertänig nach Lösungen, bis Mädchen gnädig eine akzeptiert). Wirklich perfide agiert er jedoch mit dem scheinbar harmlosen Ende der Geschichte, in dem die Mutter Jacke, Rucksack und imaginären Muffin trägt. Da Claudias Beispiel so herausragend krass ist, bemerkt man als Leser zunächst diesen Abschluss nicht wirklich. Man überliest ihn als relativ unwichtig - er hakt sich jedoch auf gemeine Art und Weise ins Unterbewusstsein fest und wirkt lange nach. Was übrig bleibt, ist die Angst, sein Kind mit solchen kleinen Liebesdiensten so zu verwöhnen, dass es doch noch zu einem Tyrannen wie Claudia wird.
 
Du findest meine Schlussfolgerung vielleicht zu weit hergeholt, doch sieh dich einmal in den Garderoben der Kindergärten um: Wie oft siehst du dort weinende Kinder, die gerne Hilfe beim Anziehen von Jacke, Schneeanzug oder Schuhen haben wollen und Eltern, die stur daneben stehen und immer wieder verärgert wiederholen: "Du kannst das doch allein! Beeil dich jetzt mal und mach nicht so ein Theater!" Ich werde wirklich häufig von verunsicherten Eltern gefragt, was sie machen sollen, wenn sich das Kind nach dem Kindergarten weigere, sich allein anzuziehen. Eigentlich würde es das ganz prima allein können und auch im Kindergartenalltag machen, aber sobald man es abhole, zerfalle es quasi vor den Augen der Eltern und würde nur unter Mühen dazu gezwungen werden können, sich selbst anzuziehen. Das wäre jedes mal ein riesen Drama, das allen Beteiligten den Schweiß auf die Stirn treibe und den Eltern die Freude am Abholen des Kindes gründlich verderbe.
 
Meine Antwort darauf ist immer die Gleiche: Was hält dich denn davon ab, deinem Kind in diesem Moment zu helfen? Warum ist es so immens wichtig, dass es sich allein anzieht, wenn du doch weißt, dass es das ganz selbstverständlich schon allein kann? Der Wunsch deines Kindes ist keine Forderung eines Tyrannen, sondern Ausdruck dessen, dass es nach einem anstrengenden Arbeitstag gern ein bisschen von dir umsorgt werden möchte. Es hat x Stunden im Kindergarten "funktioniert", hat sich in die Gruppe eingeordnet, Regeln eingehalten, sich beim Mittagschlaf allein aus- und wieder angezogen. Jetzt bist du endlich da, sein sicherer Hafen, seine große Liebe. Es möchte mit dir Kuscheln, der Körperkontakt beim Anziehen-helfen hilft ihm beim Entspannen, da dabei das Kuschel-Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Du "verwöhnst" dein Kind nicht, wenn du ihm in dieser Situation hilfst, es wird dadurch kein Tyrann. Du wirst ihm deswegen auch nicht für immer beim Anziehen helfen müssen, mach ich von diesen Ängsten frei! Das, was du ihm mit deiner Anzieh-Hilfe beibringst, ist, dass es keine Schande ist, um Hilfe zu bitten. Du zeigst ihm auch, dass es gut und schön ist, jemandem anderen zu helfen, der einen langen, stressigen Tag hatte und dass diese Hilfe demjenigen ein wohliges Gefühl von Liebe macht. Bestenfalls ziehst du so eine/n empathiefähigen Ehefrau oder -oder mann heran, die/der seiner besseren Hälfte später ungefragt ein heißes Bad einlaufen lässt oder die Füße massiert, weil sie/er erkennt, dass ihr das gut tun würde.
 
Winterhoff freilich sieht das ein bisschen anders. Seine Analyse der Situation mit Claudia fällt vernichtend für die Mutter aus. Er schreibt:
"Die Handlungsweise der Mutter zeigt gleich mehrere Auffälligkeiten, die die Psyche ihrer Tochter  in die falsche Richtung beeinflussen. [...] Claudia lernt aus dieser ganzen, 15 Minuten dauernden Szene, dass sie die Mutter in ihrer Handlungsweise bestimmen kann. Sie nimmt ihr das Heft des Handelns aus der Hand und lässt sie nach dem Prinzip von "trial and error" an der langen Leine zappeln, bis sie den Vorschlag, den "Muffin" mit nach Hause zu nehmen, für gut genug befindet, um sich abzuregen. Höhepunkte ihrer Ich-bezogenen Handlungsweise sind dann nochmal die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich von ihrer Mutter aufhelfen lässt, obwohl sie sich selbst auf den Boden geschmissen hat, und die Zurechtweisung, dass eine solche Situation nicht noch einmal passieren dürfe." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 44]
Lies das Zitat genau - denn auch hier impft er uns einen Zweifel ein, der vom Leser auf den ersten Blick als unwichtig übersehen werden könnte: Während ich mit ihm konform gehe, dass die Zurechtweisung der Mutter durch die Tochter nicht akzeptabel ist, und von der Mutter freundlich, aber deutlich abgeblockt werden sollte, finde ich es bedenklich, dass Winterhoff uns einzureden versucht, wir würden die Psyche unserer Kinder in eine gefährliche Richtung beeinflussen, wenn wir ihnen nach einem Wutanfall helfen, vom Boden aufzustehen! Mann, Mann, Mann. Was für eine Art von Beziehung propagiert er denn da? Ja, Mensch, wo kämen wir denn hin, wenn wir einen geliebten Menschen, der einen Fehler macht, hinterher trotzdem mit offenen Armen empfangen würden? Wenn wir ihn, statt ihn beleidigt auf Distanz zu halten ("Die Suppe, die du dir eingebrockt hast, löffle mal schön allein aus!"), trotz des begangenen Fehlers ohne Wenn und Aber, bedingungslos also, lieben und ihn mit all seinen gefühlsbedingten Facetten annehmen würden?
 
Geradezu absurd wird es, wenn man Winterhoffs Ratschläge an die Eltern aus dem Beispiel Claudia mit seinen Ausführungen vergleicht, die er nur ein paar Seiten weiter macht: 
"Kinder können sich nur über den emotionalen Bezug und eine entsprechende Bindung an ihre Eltern optimal entwickeln. Beziehungsfähige Kinder entwickeln sich somit zunächst einmal für ihre Eltern. Das bedeutet ganz konkret etwa, dass ein Fünfjähriger, der beim Tischdecken hilft, dies nicht funktional tut, also nicht, um die Voraussetzungen zu schaffen, damit anschließend gegessen werden kann, sondern er tut das ausschließlich für seine Eltern. Genauso lernt das Kind in der Schule für den Lehrer und - noch - nicht für das Leben." [vgl. Winterhoff, M., 2008: 72]
Wenn ich nun beide Textpassagen vergleiche, ergibt sich für mich folgende Winerhoff'sche Leitlinie, was die Beziehung zu meinen Kindern angeht: Meine Kinder sind gut an mich gebunden, deshalb helfen sie mir, weil sie wissen, dass mir das Freude bereitet. Sie helfen gern im Haushalt oder bringen mir meine Mütze, wenn ich sei vergessen habe. Sie tragen auch mal einen Teil des Einkaufs, wenn mir alle Beutel zu schwer sind. Ich als Mutter bin ebenso gut an meine Kinder gebunden. Allerdings muss ich gut aufpassen, ihnen nicht zu helfen, wenn sie sich in irgend einer Weise daneben benehmen. Sobald sie etwas "falsch" machen, muss ich ihnen meine Hilfe verweigern, auch, wenn sie das als Liebesverlust interpretieren, damit ich sicherstelle, ihre psychische Entwicklung nicht in die falsche Richtung zu lenken...
 
Eine Frage bleibt allerdings offen nach Lektüre des Buches. Es wäre schön, wenn ein Experte mir das noch beantworten könnte: Wenn ich als Mutter mal einen "Fehler" mache, wenn ich morgens grumpelig mit meinen Kindern rede, weil ich noch müde bin, wenn ich sie ungerechterweise beschuldige, meine Schokolade gegessen zu haben, obwohl das meine bessere Hälfte war, wenn ich wegen PMS schneller meine Geduld verliere, obwohl sich meine Kinder altersangemessen laut verhalten - sollten dann meine Kinder mir ihre Liebe und ihre Hilfe auch verweigern? Ist das Winterhoff'sche Verständnis von Beziehung so ein "Zuckerbrot und Peitsche"-Ding? Mir scheint es so. Das Ganze nennt sich "operante Konditionierung" und entspricht dem Stand der Lernpsychologie der 30er (!) Jahre: Gutes Verhalten wird mit Zuneigung und positiven Reizen belohnt. Negatives Verhalten wird durch die kalte Schulter zeigen und Konsequenzen geahndet. Mit bedingungsloser Liebe hat das leider rein gar nichts zu tun und echte Empathie kann so auch nicht entwickelt werden. 
 

4. Das Buch gibt vor, keine Lösungen auszuformulieren, tut es aber insgeheim doch


"Ich möchte hier keine en détail ausformulierten Lösungen für die Probleme präsentieren, und das aus gutem Grund. Niemandem ist damit gedient, sich einer vermeintlich simplen Lösungsstrategie für ein Problem zu bedienen, wenn er die Hintergründe für dieses Problem nicht verstanden hat. Genau das bezwecke ich: Sie, der Leser, der nichts lieber möchte, als (seinen) Kindern zu helfen, soll sich drüber klar werden, welche Mechanismen die psychische Reifung der Kinder in der gegenwärtigen Situation außer Kraft gesetzt haben. Mit diesem Wissen im Hinterkopf gilt es dann, neue Strategien zu entwickeln, um aus der Sackgasse zu entkommen. das ist jedoch ein Prozess, an dem jeder einzelne Betroffene sich aktiv beteiligen muss." [vgl. Winterhoff, M.; 2009: 190f]
Wie du aus dem Zitat entnehmen kannst, ist das Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" vom Autor dezidiert nicht als Ratgeber angelegt. Er betont an zwei Stellen, dass er keine einfachen Lösungsansätze geben möchte, sondern mit seinen Ausführungen nur aufrütteln möchte - er legt den Finger quasi auf den Missstand der heutigen Gesellschaft. Das mit dem Aufrütteln schafft er tatsächlich. Niemand, der dieses Buch liest, wird hinterher nicht in irgend einer Weise berührt sein. Liest man das Buch als Elternteil, passiert es oft genug, dass die Beispiele doch unangenehm nah an das heranreichen, was man tagtäglich mit den eigenen Kindern erlebt. Natürlich erleben wir nicht die Extreme, die er da beschreibt, doch er flicht ja immer, wie ich schon schrieb, auch ein paar harmlosere Begebenheiten mit ein, in denen wir uns eben doch wiedererkennen.
 
Richtig ernst wird es für uns dann aber im letzten Drittel des Buches:  Er unterscheidet drei krankhafte Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kindern: Partnerschaftlichkeit, Projektion und Symbiose. Letztere ist für ihn die fatalste Stufe der Beziehungsstörung, in der es laut Winterhoff zu einer Verschmelzung der elterlichen Psyche mit der kindlichen kommt und damit zu einer Fixierung des Kindes in einer sehr frühen psychischen Entwicklungsphase [vgl. Winterhoff, M., 2009: 134]. In diesem symbiotischen Verhältnis können Kinder dann, so sagt er, Menschen nicht mehr als Menschen wahrnehmen, sondern behandeln diese wie Gegenstände, da die Eltern ihnen keinen Widerstand entgegensetzen, wenn es sich in seinem kindlichen Narzissmus durchzusetzen versucht. Er beschreibt eine Situation aus seiner Praxis: 
"Das Kind klettert während der Zeit, in der ich mich mit den Eltern unterhalte, auf ihnen herum, mal rauf, mal runter, zerrt an ihnen und zieht ihnen dabei manchmal fast die Kleidung vom Leibe. Darauf angesprochen, reagieren die meisten Eltern mit Erstaunen und der klaren Ansage, es störe sie nicht, wenn das Kind das mache. [...] Eine weitere symptomatische Situation ist beispielsweise, dass Kleinkinder der Mutter während eines Gespräches die neben dem Stuhl liegende Handtasche ausräumen. Diese reagiert darauf erst nach einem deutlichen Hinweis meinerseits, allerdings nicht in der zu erwartenden Art und Weise. Statt die Tasche hochzustellen, damit sie für ihr Kind unerreichbar wird, räumt sie ihre Sachen wieder ein und stellt die Tasche dann wieder auf den Boden, so dass das Kind von vorne beginnen kann. Auf dem Boden der Symbiose kann die Mutter nicht mehr erkennen, dass ihr Kind etwas Falsches tut." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 143]
Dieses Verhalten ist laut Winterhoff die schlimmste Stufe der Beziehungsstörung! Nicht die kreischende Claudia, die ihre Mutter mit dem Muffin herumkommandiert, nicht der maulige Manuel, der ungefragt die Post seiner Mutter liest, nicht der ängstliche Arndt, dessen Mutter neben ihm in der Schule sitzen muss, nicht der seltsame Sven, der mit seinem Chemiebaukasten den Abendbrottisch belegt und seine Mutter dumm nennt - nein, das Kleinkind, das während eines Erwachsenengespräches auf seinen Eltern herumturnen und der Mutter die Handtasche ausräumen darf!
 
Mit diesem Beispiel nimmt der Autor uns Lesern ganz plötzlich den Atmen und lässt unser Herz vor Angst verkrampfen. Denn selbstverständlich haben alle unsere Kinder schon auf uns herumgeturnt, während wir mit einer Freundin getratscht haben. Selbstverständlich haben wir es in unserer Tasche kramen lassen - immerhin ist es dann eine Weile ruhig beschäftigt, so dass wir schnell mal einen Kaffee trinken oder die erste Seite der Zeitung überfliegen können. Während wir also noch in den ersten zwei Dritteln des Buches erleichtert aufatmen konnten, dass wir scheinbar bessere Eltern als die anderen sind, zeigt uns Winterhoff nun, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Wir sind das extremste Extrembeispiel! Unsere Kinder sind auf dem falschen Weg, nicht die der anderen!

Mit diesem Stachel des Zweifels an uns und unseren Kindern lesen wir das Buch weiter. Eigentlich würden wir jetzt gern erfahren, was wir konkret anders machen könnten, damit unsere Kinder doch noch zu psychisch gesunden Menschen heranwachsen können, aber ach, das Buch ist ja kein Ratgeber...
 
Doch ist es das wirklich nicht? Immer wieder lässt Winterhoff bewusst suggestiv wirkende Sätze in seinen Text einfließen, die harmlos daherkommen, aber althergebrachte, gesellschaftlich tief verankerte "Weisheiten" in unserem Gehirn aktivieren: 
"Es ist noch gar nicht so lange her, dass Kinder sich in Deutschland sehr positiv entwickelt haben, psychische Reifeprozesse ordentlich durchlaufen werden konnten und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft entstanden." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 190]
"Die normale Reaktion der Eltern würde folglich darin bestehen, sich dieser provokativ wirkenden Verweigerungshaltung von Seiten des Kindes nicht zur Verfügung zu stellen, sich also abgegrenzt zu zeigen [...] und dem Kind damit zu bedeuten, dass es die Eltern mit seinem frechen Verhalten nicht steuern kann. Es ist sehr wohl denkbar, das Kind wegen seiner Kindheit aufs Zimmer zu schicken. Sinn dieser Handlung wäre die räumliche Trennung, um auf diese Weise zu einem natürlichen Aggressionsabbau beim Kind zu kommen." [vgl. ebd.:149]
"Auf Seiten des Lehrers bestand zur Durchsetzung der Verhaltensregeln und des Lernerfolgs ein ganz bestimmtes pädagogisches Rüstzeug, beginnend mit dem zentralen Instrument der Notenvergabe, aber auch mit Sanktionen wie Nachsitzen, Zusatzaufgaben oder Klassenbucheintragungen mit den entsprechenden Konsequenzen." [vgl. ebd.:107] 
Ich könnte noch einige weitere Beispiele aus dem Buch heraussuchen. Wenn man genau hinschaut, strotzt es an allen Ecken und Enden nur so vor Ratschlägen. Diese sind jedoch so geschickt in den Kontext eingewoben, dass man sie durchaus überlesen kann. Sie wirken aber nach - sie lassen eine Saite in unserem Gehirn anklingen, die uns bekannt und erfolgsversprechend vorkommt, da sie direkt aus unseren eigenen Kindheitserinnerungen gespeist wird.

Der vom Lesen aufgewühlte Mensch greift in einem solchen Zustand automatisch auf althergebrachte Mittel zurück, also das so genannte Bauchgefühl, so dass eine Lösung der von Winterhoff aufgezeigten Probleme nie dem neusten wissenschaftlichen Stand der Neurologie entsprechen werden, sondern immer auf den Strategien der letzten Generationen Fußen werden. Sein Weg ist der Weg zurück. Zurück zu mehr Disziplin, zu mehr Gehorsam, einem vermeintlich einfacheren Leben. Das muss nicht schlecht sein - es gibt junge Eltern, die darauf vertrauen, dass die Erziehung der Generationen vor uns zu stabilen Menschen führt und deshalb so falsch nicht sein kann.  Wer aber das Gefühl hat, die Methoden der eigenen Kindheit hätten zum Teil eben doch geschadet und wer es dementsprechend bei seinen eigenen Kindern anders machen möchte, der sollte lieber die Finger von seinem Buch lassen. 
 
Denn seine Worte sind klebrig wie Honig und bleiben in uns noch lange, nachdem wir sein Buch beiseite gelegt haben. Ich habe fast ein ganzes Jahr benötigt, um mich von der Lektüre so weit zu erholen, dass ich meinen Weg des Attachment Parenting  wieder gefunden hatte. Meine Töchter mussten mir wieder und wieder rückmelden, dass sie das Gefühl haben, meine Wertschätzung für sie und ihre kleinen Eigenheiten sei abhanden gekommen, bis ich endlich den Winterhoff'schen Blick abschütteln konnte.
 
Ich bin natürlich nicht die Einzige, die Winterhoffs Buch kritisiert. Vor mir haben das schon etliche schlauere Köpfe als ich getan. Einer davon ist der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann. In einem Radiointerview mit Joachim Scholl (Deutschlandradio Kultur) im Jahr 2009 positioniert er sich eindeutig:
"Zunächst einmal kann ich solche Sätze nicht unkommentiert stehen lassen. Wir haben hier keine Fachdiskussion, ich will das auch nicht eingehen, aber wie Herr Winterhoff das Wort Symbiose und Psychenverschmelzung benutzt, da kann man sich wer weiß was drunter vorstellen. Ich kann mir nichts drunter vorstellen. Wie er diese Begriffe verwendet ist rein fachlich falsch. Das ist erst einmal festzuhalten und für die Eltern als Warnung aufzufassen: Seid vorsichtig mit solchen Leuten, sie wissen teilweise nicht, was sie sagen. [...] Was er da beobachtet hat, ist, dass Eltern das Kind ins Zentrum ihres Lebens stellen. Das Kind muss ein ganz tolles Kind sein. [...] Eltern behaften die Kinder mit ihrem elterlichen Narzissmus. Das Kind muss zeigen, was für eine tolle Familie das ist. [...] Das ist eine richtige Beobachtung, aber die Analyse von Herrn Winterhoff streift sozusagen die Lächerlichkeit. [...] Ich könnte jetzt noch lange Zeit fortführen, tue ich aber nicht, weil ich höflich bin." [vgl. Bergmann, W., 2009, Radiointerview] 
Mit diesem wunderbar eindeutigen Zitat könnte ich diesen Artikel eigentlich beenden, doch es ist mir ein Bedürfnis, dir als Leser noch einmal an einem Beispiel die drei unterschiedlichen Reaktionsweisen von Eltern auf ein typisches Verhalten von Kindergartenkindern aufzuzeigen:

Wie reagieren Eltern bei einem kindlichen Wutanfall wegen Quengelware?


Um den Unterschied noch einmal ganz deutlich zu machen, möchte ich eins der Winterhoff'schen Beispiele aus dem Buch aufgreifen und die verschiedenen Erziehungsansätze miteinander vergleichen.
"Supermarktbesuche mit Kindern von etwa fünf Jahren verlangen von den Eltern bisweilen eine annähernd masochistische Grundhaltung. Der Supermarkt ist die ideale Spielwiese für das in der Allmachtsphase befindliche Kind, seine Macht auszutesten, die Eltern unter Druck zu setzen und sich als kleiner Diktator aufzuspielen. Nicht ohne Grund befinden sich die Spielwarenabteilungen dieser Märkte häufig in unmittelbarer Kassennähe oder zumindest auf dem Hauptlaufweg innerhalb des Marktes. Kein Kind ist in der Lage, den bunten Verlockungen in den Regalen zu widerstehen. Der Versuch, die Eltern dazu zu bewegen, irgendetwas davon käuflich zu erwerben, ist quasi unausweichlicher Bestandteil jedes Ganges in den Markt. [...] Das Kind quengelt und bestürmt die Eltern, ihm ein bestimmtes Spielzeug zu kaufen, nichts großes, vielleicht ein Spielzeugauto. Die Eltern reagieren ablehnend, wissen um den gefüllten Autokorb daheim im Kinderzimmer, und sagen dem Kind, dass es dieses Auto nicht bekommen werde. Ein normaler Vorgang, der mit der Absage an das Kind beendet sein müsste." [vgl. Winterhoff, M., 2009: 124]
  • Winterhoff meint, dass die Eltern der heutigen Generation dem Quengeln der Kinder dann doch noch nachgeben werden. Sei es, weil sie auf der partnerschaftlichen Ebene mit ihnen ausdiskutieren, warum es dieses Auto nun doch sein muss, sei es, weil sie sich in der Projektion befinden und als Kind selbst gern so ein Auto gehabt hätten und sich nun dieses Glück über ihre Kinder selbst verschaffen oder sei es eben, weil die Eltern so mit ihren Kindern verschmolzen sind, dass sie gar nicht mehr auf die Idee kommen, ihn diesen Wunsch abzuschlagen, da es ihnen wie ihr eigener Wunsch vorkommt.
 
Ich bestreite nicht, dass es heutzutage Eltern gibt, die ihren Kindern, warum auch immer, kein Nein entgegensetzen und ich schließe mich Winterhoff durchaus in der Schlussfolgerung an, dass dies für die gesunde psychische Entwicklung gefährlich ist. Anders als er sehe ich das jedoch nur bei einem minimalen Anteil aller Eltern, die ich tagtäglich beobachte. Der Großteil der Eltern reagiert doch in etwa so:
 
  • Die Eltern geben dem Quengeln des Kindes nicht nach, woraufhin dieses sich wütend auf den Boden wirft und seinem Frust lautstark Ausdruck verleiht. Die Eltern hocken sich neben das Kind und versuchen ein paar Minuten lang, es zu trösten und zu erklären, warum sie das Auto nicht kaufen. Das Kind hört nicht zu und wütet weiter. Nach ein paar weiteren Minuten werden die Eltern ungeduldig und sagen: "Nun ist aber gut! Ich möchte jetzt weitergehen!" Da das Kind sich immer noch nicht beruhigt, wird es entweder von den Eltern hochgehoben und weggetragen - oft wird dadurch der Einkauf komplett abgebrochen - oder die Eltern lassen das wütende Kind auf dem Boden liegen und gehen mit den Worten: "Ich gehe jetzt los, du kannst ja nachkommen, wenn du dich beruhigt hast!" Daraufhin steht das Kind doch auf und läuft den Eltern weinend hinterher, beruhigt sich aber nach einer Weile letzten Endes doch noch von allein.
 
Ich denke, dieses Vorgehen ist im Winerhoff'schen Sinne. Die Eltern haben eine Grenze gezogen und bleiben bei dieser. Sie gehen kurz auf die Gefühle des Kindes ein, lassen sich dann aber nicht weiter "manipulieren". Das Kind steht selbst auf und beruhigt sich selbst. Ich finde dieses Vorgehen nicht verwerflich, aber auch nicht besonders freundlich. Meines Erachtens lernt das Kind auch nicht besonders viel aus dieser Situation, außer, dass sein Gefühlsausbruch nicht erwünscht ist und seine Eltern notfalls ohne es losgehen würden. Für die psychische Entwicklung ist dieses Vorgehen vermutlich jedoch nicht schädlich. Ich finde aber, dass es einen achtsameren, beziehungsorientierteren Weg auch in dieser Supermarktszene gibt:
 
  • Die Eltern geben dem Quengeln des Kindes nicht nach, woraufhin sich das Kind wütend auf den Boden wirft und seinem Frust lautstark Ausdruck verleiht. Die Eltern hocken sich neben das Kind und spiegeln seine Gefühle ("Du bist echt wütend! Du willst dieses Auto! Du bist sauer mit mir, weil ich es dir nicht kaufe!"), das Kind hört aber nicht zu und schreit weiter. Die Eltern bleiben neben dem Kind und warten ab, bis sie in irgend einer Weise einen Zugang zu ihm finden. Das kann durchaus eine Weile dauern, die Eltern warten jedoch so lange geduldig ab, bis das Kind soweit durch ist mit seinem Gefühlsausbruch, dass es dem Trösten oder den Worten seiner Bindungspersonen zugänglich ist. Danach kann der Einkauf gemeinsam fortgesetzt werden.

Nun wird mir häufig das Argument entgegengebracht, dass man als Eltern eben nicht immer warten kann und dass man ja manchmal auch Geschwisterkinder dabei hat, die ebenfalls nicht auf den Wüterich warten müssen sollen. Das stimmt - manchmal hat man als Eltern einen Termin und muss dringend los. Doch wie oft ist das? Normalerweise geht man doch mit dem Kind nach der Kita noch schnell einlaufen, oder auch an einem Samstag. Wie viele Termine hat man denn da noch? Normalerweise ist es doch eher so, dass wir genervt sind und nicht warten wollen. Wir sind müde und geschafft und möchten nach Hause, wir wollen nicht mit einem brüllenden Kind im Supermarkt stehen. Und ja - oft hat man noch ein zweites und drittes Kind im Schlepptau, die dann unschlüssig neben ihrem tobenden Geschwisterkind stehen. Ich frage mich, warum wir eine solche Situation nicht als Chance sehen für unsere Kinder, die sich in diesem Moment gerade nicht in der emotionalen Krise befinden?

Die Kritiker unserer Erziehung sagen, ein Kind muss lernen, auf Erwachsene zu hören und Rücksicht auf andere zu nehmen. Gern wird auch die Zukunft dabei in Aussicht gestellt: In der Schule, in der Arbeitswelt muss es sich ja auch einordnen. Ja, sage ich! Das stimmt. Aber warum muss denn ausgerechnet das Kind in der emotionalen Notlage das in dieser Situation lernen? Warum nicht das Geschwisterkind? Es kann doch in diesem Moment viel, viel besser lernen, Rücksicht zu nehmen, abzuwarten, und auch "einfach mal zu machen, was der Erwachsene sagt", da sein Gehirn gerade nicht von Gefühlen übermannt wird. So kann man als Familie dem wütenden Kind Empathie entgegen bringen und schult beim zweiten Kind empathisches Verhalten: sich zurückzunehmen, weil es dem anderen schlecht geht und Lösungen finden, die dem anderen vielleicht aus der Krise helfen.

Das zweite Kind kann sich so auch wunderbar von den Eltern abschauen, wie es später mit den eigenen Kindern in einer solchen Situation umgehen kann. Oder die Mutter schickt es los, den Rest der Einkaufsliste abzuarbeiten - dann würde in dem Moment seine Selbständigkeit geübt, es würde Selbstbewusstsein aufbauen, weil es in einer stressigen Situation zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt. Die Mutter oder der Vater könnte dann beim wütenden Kind bleiben und mit ihrer ruhigen Gegenwart signalisieren, dass es okay ist, von Gefühlen übermannt zu werden und das sie da ist, es zu empfangen, wenn es dazu bereit ist.

Starke Gefühle, da sind sich die Neurobiologen mittlerweile einig, können nur "integriert" werden, also wirklich beherrscht, wenn sie in der Kindheit durchlebt werden, wenn diese Gefühle durch Erwachsene benannt werden und alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Das passiert nicht hinreichend, wenn dem Kind signalisiert wird, dass Gefühlsausbrüche nicht okay sind - die Gefühle werden dann eher unterdrückt, aber nicht beherrscht. Letzteres muss nicht per se schlecht sein - es gibt ja heutzutage viele, viele Erwachsene mit eher unterdrückten als integrierten Gefühlen, die alle ein redliches, gutes Leben führen.

Problematisch wird es nur, wenn diese Gefühle hervorbrechen, z.B. wenn die eigenen Kinder einen vermeintlich provozieren, und der Mensch dann so wütend wird, dass er kaum noch weiß, was er tut (Stichwort Schütteltrauma oder Klapps auf den Po). Das würde einem Menschen, der in der Kindheit Gelegenheit hatte, seine Gefühle auszuleben und sie dadurch zu beherrschen gelernt hat, nicht passieren. Ich halte es also für vorteilhaft, wenn möglichst viele Kinder heute ihre Gefühle in allen Facetten kennenlernen dürften. Mit dem Buch "Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden" als Leitlinie wird das nicht gelingen. Das finde ich so schlimm an Winterhoff.

© Snowqueen 


 

 

Literatur






 
 
 
 

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