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Wie Babys sitzen lernen und warum zu frühes Hinsetzen durch die Eltern schädlich ist

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Langsitz
Vielleicht ist euch das auch schon aufgefallen - in allen Babykursen, in denen ich mit meinen drei Kindern so war, gab es immer mindestens eine Mutter, die ihr Kind zu früh in die sitzende Position gebracht hat. Ich weiß nicht woran das liegt - ist es Ungeduld, unbewusster Ehrgeiz oder einfach Unbedarftheit? Ich kann es nicht einmal daran festmachen, ob es das erste, zweite oder dritte Kind der Mutter ist - in meinen Kursen taten es sowohl die Erstlings- als auch die Mehrfachmütter. Es gibt wirklich wenige Dinge, über die ich bei fremden Eltern nicht nonchalant hinwegsehen kann, wenn es sich nicht gerade um physische oder psychische Gewalt handelt. Beim frühen Hinsetzen jedoch fällt es mir wirklich, wirklich schwer, nicht einzugreifen. Warum ich mir wünsche, dass Eltern ihren Kindern Zeit geben, bis sie das Sitzen von selbst gelernt haben, möchte ich euch mit diesem Artikel darlegen.
 
 

Wie definiert man Sitzen?

 
"Das Kind sitzt, wenn es seinen Rumpf über den Sitzbeinhöckern ausbalanciert. Beim ebenerdigen Sitzen vergrößern die gebeugten oder gestreckten Beine die Unterstützungsfläche. Beim Sitzen auf erhöhter Sitzgelegenheit hilft der Kontakt der Fußsohlen mit dem Boden dem Kind, aufrecht und im Gleichgewicht zu bleiben. Beim Kind, das gut sitzen kann, ist im allgemeinen das Becken über den Sitzbeinhöckern aufgerichtet. Auch der Kopf ruht senkrecht auf der durchgehend gestreckten Wirbelsäule, sofern er nicht der Blickrichtung des Kindes folgt. Es hat einen geraden Rücken, unabhängig davon, ob es ebenerdig oder auf einer erhöhten Sitzgelegenheit sitzt. Selbst wenn diese eine Lehne hat, lehnt es sich nicht an. Auch ein Kind, das sitzen kann, stützt sich gelegentlich mit einer Hand oder mit beiden Händen ab oder hält sich fest." [vgl. Pikler, E., 2001:224]


Wann spricht man von freiem Sitzen?


"Das Kind kann frei sitzen, wenn es sich selbständig aufsetzt oder hinsetzt und selbständig ohne Hilfe oder Stütze sitzt und sich weder mit dem Rücken noch mit den Händen abstützen muss. Es kann sitzen, wenn es diese Position selbständig ändern und verlassen kann und beim Sitzen den Kopf, den Rumpf und die oberen Gliedmaßen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, frei bewegen kann. [...] Das Kind kann nicht sitzen, solange es nur mit Hilfe Erwachsener oder mit Hilfe einer anderen Unterstützung wie z. B. Babystühlchen, Kissen oder dergleichen sitzend verharren kann und ohne diese Hilfe umkippen würde. Die genaue Bezeichnung dafür wäre: "Es bleibt gestützt in der Sitzposition". Das Kind kann auch dann nicht sitzen, wenn es zwar ohne Hilfe und Stütze in der Sitzposition verharrt, aber sich nicht selbst aufsetzen oder niederlegen kann. Die genaue Bezeichnung dafür wäre: "Es verharrt in der Sitzposition". [vgl. Pikler, E., 2001: 225]
 

Welche Arten des Sitzen-Lernens gibt es?

 

Hürdensitz
Hat ein Baby die Entwicklungsschritte bis zum Vierfüßerstand durchlaufen, können die Eltern oft beobachten, dass es anfängt, in dieser Position vor und zurück zu wippen. Das tut es, um die Muskeln weiter zu stärken und den nächsten Schritt (das Krabbeln) vorzubereiten. Beim Nach-Hinten-Wippen passiert es unwillkürlich, dass der Po leicht mal zur einen, mal zur anderen Seite kippt. Zunächst geschieht das aus Versehen, aber bald findet das Baby Gefallen an der neuen Bewegung und übt sie ganz bewusst.

Dabei wird es immer mutiger und schiebt den Po immer weiter nach hinten und zur Seite. Irgendwann berührt es bei diesem Prozess den Boden mit dem Po - dabei hat es aber meist noch beide Hände am Boden. Der nächste Schritt ist, eine Hand vom Boden zu heben. Das ist eigentlich immer die diagonale Hand, d. h. sitzt das Baby auf der rechten Pobacke, stützt es sich gleichzeitig mit dem rechten Arm ab - der abgestützte Seitsitz ist geschafft. Von dort ist es nur noch ein winziger Schritt bis zum "echten" freien Sitzen: Der stützende Arm drückt den Körper mit etwas Schwung in eine aufrechtere Position und das Baby sitzt im Langsitz! Normalerweise sind dabei beide Beine nach vorne gestreckt, es gibt aber auch Babys, die es bevorzugen, nur ein Bein nach vorn zu strecken und das andere geknickt hinten zu lassen (Hürdensitz).

Eine zweite Technik des Sitzenlernens ergibt sich aus dem Krabbeln. Manche Kinder sind so damit beschäftigt, zu lernen, wie sie vorwärtskommen, dass sie zunächst das Sitzen scheinbar auslassen. Diese kommen auch in den Vierfüßerstand und auch sie wippen vor- und zurück, doch statt den Seitstütztsitz zu üben, krabbeln sie erst einmal los. Einige von ihnen kommen dann aus dem Krabbeln in den Seitstützsitz, es gibt jedoch auch Kinder, die sich mit den Händen gerade nach hinten schieben (Knie-Händstütz), in den Kniestand kommen und den Po dann zwischen den Fersen absetzen (Zwischenfersensitz).

Physiotherapeuten schlagen, wenn sie das sehen, meist die Hände über dem Kopf zusammen, weil sie meinen, das sei schlecht für die Gelenke und Sehnen. Ich habe jetzt aber schon so viele Kinder so sitzen gesehen, dass ich denke, wir sollten nicht alles pathologisieren: Wenn die Kinder selbst diese Art des Sitzes für sich entdeckt haben, sollten wir sollten wir sie lassen und ihnen nicht suggerieren, sie hätten etwas falsch gemacht. Einige Kinder setzen ihren Po auf ihre Fersen - dieser Fersensitz ist eine leichte Variation des Zwischenfersensitzes und nicht ganz so anstrengend für die Gelenke.  

Zwischenfersensitz

Die dritte Art des Sitzenlernens entsteht aus dem Stand bzw. dem Kniestand. Es gibt Babys, die sofort in die vertikale Position streben und sich, sobald es geht, an Gegenständen nach oben in den Stand ziehen. So lange das alles selbst vom Baby ausgeht und die Eltern nicht unterstützen ist das auch kein Problem. Jedes Kind weiß selbst am besten, was sein eigener Körper leisten kann. Diese Kinder plumpsen dann meist aus dem Stand auf den Po - und bleiben sitzen. Andere rutschen langsam aus dem Stand in den Spagat (!), während sich die Hände noch am Gegenstand festhalten. So kommen sie sehr sicher, wenn auch ein wenig umständlich und akrobatisch, letzten Endes auch im Langsitz an. Beide, die Plumpser und die Spagatler, werden, wenn sie sicherer im Stand sind, erst ein Knie einknicken (wie bei einem Heiratsantrag) und dann langsam den Po aufsetzen. Dabei haben sie dann im Sitz meist ein Bein vorn und ein Bein hinten, beide meist eingeknickt (Variation des Hürdensitzes). Kinder, die sich an einem Gegenstand nur in den Kniestand und nicht ganz hoch in den Stand ziehen, setzen sich dann meist auf die Fersen bzw. zwischen die Fersen.

Aus dem Stand werden die Beine geknickt

bis ein Knie den Boden berührt.

Das zweite Knie wird nach außen geklappt

und das Kind sitzt.


Ganz sicher gibt es noch weitere, individuelle Techniken, die Kinder beim Sitzen-Lernen nutzen. Ich habe hier nur die Gängigsten aufgeführt.
 

Wie lange dauert das Sitzen-Lernen?


Diese Frage lässt sich natürlich nicht pauschal beantworten, da jedes Kind sein eigenes Tempo hat. Es ist jedoch so, dass der Prozess normalerweise so lange dauert, dass wir Erwachsenen schon unruhig werden und gerne helfend eingreifen wollen. Bei meinem Drittgeborenen konnte ich das wunderbar beobachten. Als wir das erste Mal zu unserem Baby-Turn-Kurs gingen, schaffte er es plötzlich, sich auf dem Bauch liegend so aufzustützen, dass er kurz den Po hob und auf die Knie kam. Ich dachte: "Hurra! Bald kann er sitzen!", doch es dauerte noch geschlagene acht Wochen, bis er das dann tatsächlich richtig konnte. Acht Wochen, in denen er jeden Tag den Po ein wenig weiter zur Seite neigte, in denen er wippte, sich jedes mal ein bisschen weiter mit den Armen nach oben schob und schließlich und endlich beide Hände zum Spielen frei hatte. Damit zählt er sicherlich sogar zu den schnelleren Lernern. Meine erste Tochter, Fräulein Chaos, hob ihren Po etwa im selben Alter, wie ihr kleinerer Bruder, doch sie nutzte diesen Umstand nicht zum Sitzen-Üben, sondern zum Krabbeln. Das Sitzen übte sie dann erst 16 Wochen später, nachdem sie gelernt hatte, frei zu stehen.
 

Warum sollten Eltern das Baby nicht hinsetzen?


Neuronale Verknüpfungen im Gehirn und Motorik


Ob ein Kind ein motorischer Überflieger wird oder eher unsicher, hängt nicht von den Genen ab, sondern davon, wie bestimmte Nervenbahnen im Laufe der Hirnentwicklung miteinander verknüpft werden. Wir alle kommen mit Gehirnen auf die Welt, in denen es eine wahnsinnige Überzahl an Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen gibt - doch nur die, die regelmäßig durch Bewegungen des Körpers aktiviert werden, stabilisieren und festigen sich. Werden bestimmte Bewegungen nicht oder nur selten ausgeführt, destabilisieren sich die anfänglich bereitgestellten Verknüpfungen: Sie werden eingeschmolzen und das Baby lernt diese Bewegung nicht oder nur unzureichend. (Es ist allerdings möglich, diese Verknüpfung durch Physiotherapie nachträglich zu festigen.)
 
Lässt man das Baby, wie schon Emmi Pikler das forderte, in Ruhe seine eigenen motorischen Entdeckungen machen, dann durchläuft es eine ganze Reihe an minimalen Schritten, die für Außenstehende oft gar nicht wirklich zu erkennen sind. Sie bauen jedoch immer aufeinander auf, sprechen immer genau die richtigen Muskelgruppen an und trainieren diese so, dass sie den Grundstein für die nächsten motorischen Stufe bilden. Dabei entsteht ein Wechselspiel zwischen soeben gelernten, neuen und noch unsicheren Bewegungsmustern, der Rückbesinnung auf alte Positionen und Bewegungen, die dem Kind Sicherheit vermitteln und dem Herantasten an neue, ungeübte und mit Risiko behaftete Bewegungsmuster.

Die Babys experimentieren also mit ihrem Körper - dabei ist es jedoch tatsächlich abhängig vom Charakter des Kindes, von den kommunikativen Anregungen der Umwelt und von seiner Neugier, wie schnell oder langsam dieser Prozess vonstatten geht. Bei allen Kindern gleich ist allerdings, dass alle motorischen Bestrebungen "nach oben" gehen.



Liegt das Baby zunächst noch flach auf dem Rücken oder Bauch, wird schon bald das Köpfchen ein wenig angehoben - das Streben in die Vertikale hat begonnen. Es geht weiter, indem es seinen Oberkörper nach und nach immer höher abhebt, während es sich auf seinen Armen abstützt. Dabei balanciert es immer geschickter sein Gleichgewicht aus. Die Fläche des Rumpfes, auf das es sich bei seinen Bewegungen stützt, wird sukzessive kleiner. Nun kippen viele Babys erst einmal aus Versehen von der Bauchlage zurück in die Rückenlage, doch schon bald wird dieses Muster bewusst wiederholt und eingeübt, so dass ein Rollen und Wälzen möglich ist. Dabei werden auch verstärkt die Bein- Bauch- und Rückenmuskeln gestärkt. Je öfter es seine Muskeln trainiert, desto länger können die Arme den Oberkörper und die Beine den Po stützen - daraus ergibt sich das erste Kriechen auf dem Bauch, dann das Robben und später das Krabbeln. Zu der Zeit, in der das Baby sich ausdauernd auf Knie und Arme stützen kann, dreht es sich, auf einen Arm gestützt, auf die Seite. Gleichzeitig mit dem Aufsetzen übt es, sich wieder hinzulegen - beide Prozesse laufen Hand in Hand, deshalb kann es sich später, wenn nötig, mühelos selbst aus der Sitzposition befreien.
 
Wird das Baby nun in seiner individuellen motorischen Entwicklung unterbrochen, weil die Eltern es gut meinen und ihm helfen wollen, dann gerät das fein aufeinander abgestimmte Prozedere der minimalen Schritte ins Stocken. Wichtige Nervenbahnen im Gehirn werden nicht mehr aktiviert, so dass einer oder mehrere wichtige Zwischenschritte vom Körper nicht mehr erlernt werden.
 
Wird das Kind von den Eltern verfrüht hingesetzt, dann sind also nicht nur Muskeln und Gelenke überfordert. Das Gehirn des Kindes kann dann nicht mehr nachvollziehen, wie der Körper in diese Position gelangt ist - daher fällt es dem Kind auch immens schwer, sich aus der Position selbst zu befreien. Es fehlen, im wahrsten Sinne des Wortes, die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn dafür! So kommt es dazu, dass diese Kinder häufiger als nach hinten umkippen und sich weh tun. Die Antwort der besorgten Eltern ist dann meist, den Umkreis des Babys mit Matten oder Kissen zu sichern, so dass das Kind wenigstens weich fällt.
 
Auch, wenn ich es verständlich finde, dass die Eltern ihrem Kind diese Schmerzen ersparen wollen, greifen sie so schon wieder massiv in die Entwicklung ein. Denn ein Baby das nach hinten fällt und weich aufkommt, wird nicht lernen, sich vor diesem Fall selbst zu schützen, da es die Notwendigkeit nicht erkennt. Stattdessen wird der "falsche Weg" des sich aus dem Sitz-Befreiens weiter eingeübt und die Nervenbahnen dafür im Gehirn verstärkt. Würde das Kind jedes Mal hart auf den Hinterkopf knallen, würde es von sich aus aktiv nach anderen Möglichkeiten suchen, aus dem Sitz in eine andere Position zu kommen.

Kinder, die ihre eigenen motorischen Erfahrungen machen dürfen und dabei umfallen, lernen durch den Schmerz vor allem eins: Sich zu schützen, sich abzurollen und ihre Muskeln so anzuspannen, dass der Fall nur wenig weh tut. Das finde ich immens wichtig! Auch hier ist die Genialität der Natur gut erkennbar: Kinder, die aus einer Höhe umfallen, die ihrem Entwicklungsstand entspricht (also nicht vom Sofa runter, sondern aus dem Boden-Sitz umfallen z. B.) verletzen sich bis auf ein paar Beulen und blaue Flecke nicht ernsthaft. Der Körper unserer Kinder ist so beschaffen, dass er auf diese Fallhöhe eingestellt ist und dadurch nicht kaputt geht. Durch das Erlernen von Schutzmechanismen bei diesen Mini-Unfällen lernen sie aber ihren Körper sehr gut kennen und besser einschätzen, als Kinder, die vor Schmerzerfahrungen geschützt werden. So verletzen sie sich später, wenn sie höher klettern, weniger stark als die überbehüteten Kinder. Das Motto der Eltern sollte also immer sein: Kleinere Unfälle verhindern später große Unfälle.

Selbstbewusstsein und Frustrationstoleranz 


erstes freies Sitzen, noch mit Stützhand
Kinder, die von ihren Eltern zu früh hingesetzt wurden, verharren, wenn ihre Muskeln und Gelenke sich an die neue Situation angepasst haben, häufig sehr, sehr lange in dieser Position (eben weil sie sich nicht selbst befreien können). Sie wirken zunächst glücklicher als andere Babys im gleichen Alter, welche nörgelnd auf dem Bauch liegen und wehklagend der Welt erklären, wie anstrengend ihr Leben doch sei. Das Ding ist - diese minimalen Frustrationen sind sehr wichtig für unsere Kinder. Schon in diesem Alter wird der Grundstein gelegt für Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz und Selbstbewusstsein. Auch wenn die Nörgelei für die Eltern schwer zu ertragen ist, sollten sie sich zügeln. Denn nur ein gewisser Grad an Frustration führt dazu, dass ein Kind die Kraft und den Willen aufbringt, sich weiterzuentwickeln. Es ist langweilig am Boden? Das Spielzeug ist zu weit weg? Gut! Dann los Baby, hol es dir!
 
Zu früh hingesetzte Babys hören erst einmal auf, mit dem Nörgeln, weil sie die neue Aussicht und die Möglichkeit, mit beiden Händen frei zu spielen, genießen. Doch schon bald fangen sie wieder an, zu lamentieren. Nämlich dann, wenn das Spielzeug weggerollt ist und sie nicht hinterher können. Dann jammern sie so lange, bis Mama oder Papa kommen, und das Spielzeug zurückholen bzw. eine ganze Batterie an verschiedenen Spielzeugen um sie herum drapieren. Wieder haben die gutmeinenden Eltern eine Lernmöglichkeit verstellt. Die Frustration des weggerollten Spielzeuges hätte Antrieb für das Baby sein können, sich einen eigenen Weg aus der Sitzposition zu suchen. Da es aber das Spielzeug von seinen Eltern wieder und wieder gereicht bekommt, besteht keine Notwendigkeit dazu. So kommt schon das ganz kleine Kind in eine frühe Anhängigkeit zu seinen Eltern.

Dieses Gefühl der fehlenden Selbstwirksamkeit wird verinnerlicht als "Ich kann das nicht!" und fällt den Kindern dann auf die Füße, wenn ihre Eltern nicht mehr 24 Stunden am Tag zu Diensten sein können: Ein Kind, dem so schon im frühen Alter abtrainiert wurde, es selbst zu probieren, auch bei Rückschlägen dran zu bleiben, gewissen Frust auszuhalten und als Sprungbrett für Ehrgeiz zu nehmen, das könnte auch im Kindergarten oder Schule vor neuen Herausforderungen zurückschrecken bzw. allzu leicht aufgeben. Sein Selbstbewusstsein baut sich vielleicht nur unzureichend auf, da es immer wieder die Rückmeldung erhält, dass es ohne seine Eltern hilflos ist. 
  

Innere Motivation und Selbstwirksamkeit

 
Jedes Kind kommt mit einem angeborenen Drang, sich weiterzuentwickeln und zu lernen auf die Welt. Es braucht liebevolle Zuwendung, freundliche Ansprache, Nahrung, Kleidung und Schlaf - das alles sollten die Bindungspersonen zur Verfügung stellen. Den Rest jedoch, den macht das Baby von ganz allein!

Denn unser Gehirn hat ein aberwitziges Programm zur Eigenmotivation entwickelt, welches den Menschen dann besonders glücklich sein lässt, wenn er eigenständig etwas Neues geschafft oder gelernt hat. Dann wird ein Hormonfeuerwerk freigesetzt, das den Menschen in einen kurzen Rausch versetzt (ähnlich, wie bei Drogen) und eine Welle von wohliger Entspanntheit durch den Körper strömen lässt. Ich habe das in diesem Artikel sehr ausführlich erklärt. Dieser Zustand ist für einen Menschen so angenehm, dass er gerne mehr davon haben möchte: Deshalb streben wir nach immer neuen Herausforderungen. Man nennt das innere Motivation.

Allerdings: dieses Hormonfeuerwerk wird nur dann ausgeschüttet, wenn der Mensch etwas allein und ohne Hilfe bewerkstelligt hat. Babys, die sich von selbst in den Sitz drücken, erleben dieses Hochgefühl und sind motiviert, trotz Anstrengung weiter zu üben. Sie haben gelernt, dass sich die Anstrengung am Ende lohnt, dass es also gut war, durchzuhalten. Sie nehmen diese Erfahrung mit in ihr späteres Leben und werden mit aller Wahrscheinlichkeit eher an Herausforderungen mit positiven Emotionen herangehen, als Babys, die diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit nicht machen konnten.

Natürlich leidet die innere Motivation und das Gefühl der Selbstwirksamkeit nicht nur deswegen, weil ein Kind von seinen Eltern zu früh hingesetzt wurde - so fragil sind wir Menschen nicht. Wenn jedoch immer wieder kleine Hilfestellungen gegeben werden, obwohl das Kind es selbst lernen könnte, dann erlebt das Kind den Zustand der inneren Glückseligkeit, etwas selbst geschafft zu haben, nur selten und könnte ...nunja... träge und faul werden. Denn es ist natürlich einfacher, wenn Mama und Papa helfen und Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Durch die fehlende innere Motivation leidet die Anstrengungsbereitschaft und der Ehrgeiz, was im späteren Leben durchaus zu Problemen führen kann.

Wohlgemerkt: Ich sage nicht, dass ein Kind zwangsläufig träge und faul wird, weil es von den Eltern zu früh hingesetzt wird! Aber ich sage, dass dieses Hinsetzen innere Mechanismen unterbricht, welche für das Kind von Vorteil sind.
 

Unterstützende  Maßnahmen bei verzögerter motorischer Entwicklung


Dein Kinderarzt sagt, Dein Baby sollte schon sitzen können und will es zur Physiotherapie schicken? Ich möchte natürlich nicht ausschließen, dass das stimmt und dein Kind wirklich entwicklungsverzögert ist. Dann ist Physiotherapie genau das Richtige. Mein Problem liegt darin, dass heutzutage viel zu oft und viel zu früh entschieden wird, dass ein Kind aus der Norm fällt und es deshalb "Nachhilfe" bekommen sollte. Bitte hole dir deshalb zunächst einmal eine Zweitmeinung ein und beobachte es ganz genau: Ist es vielleicht einfach von der ruhigeren, zufriedenen Sorte und sitzt deshalb noch nicht, weil es in Rücken- oder Bauchlage gerade so viele spannende Dinge entdeckt?
 
Dann lass ihm noch Zeit.
"Wie können wir gesunden Säuglingen [...] helfen, deren Bewegungsentwicklung langsamer verläuft, als es durchschnittlich üblich ist? [...] Bei den sich langsam entwickelnden Kindern halten wir die Übergangspositionen für noch wesentlicher sowie alle Bewegungen, die das Kind darin probiert oder mit denen es seine Position oder seinen Platz wechselt, bevor es sich aufsetzt [...]. Also das Spielen auf dem Rücken oder auf dem Bauch, das Sich-Drehen, Wälzen, Rollen, Bauchkriechen oder Krabbeln auf Knien und Händen. Kurz, alles, womit Kinder spontan aber ausgiebig die Vorstufen der späteren Bewegungen üben. Falls der Erwachsene selbst oder mit Geräten die "langsamen" Kinder - in einem üblicherweise nach Tabellen bestimmten Alter - termingerecht in die zu erreichende Position bringen, also viel früher, als die Kinder dazu reif wären - werden sie all dies fehlerhafter und krampfhafter durchführen [...]. Noch nicht reif dazu, selbständig die Position, in die sie gebracht wurden [...] verändern zu können, werden sie daran gewöhnt - wir möchten sagen - werden sie gezwungen, sich an fehlerhafte Bewegungen oder z. B. an ein Sitzen mit krummem Rücken zu gewöhnen." [Pikler, E., 2001:116f]

Gestütztes Sitzen - Was ist problematisch, was ist erlaubt?


Ich werde oft von verunsicherten Eltern angeschrieben und gefragt, was denn nun erlaubt ist - darf ein Kind, das noch nicht frei sitzen kann in den Hochstuhl? Wie ist es mit dem elterlichen Schoß? Und ist das Sitzen im Tragetuch nicht auch ungesund?

Sitzen auf dem Schoß der Bindungspersonen


Sitzt ein Kind angelehnt auf dem Schoß seiner Bindungspersonen, ist das so lange in Ordnung, bis das Kind durch Quengeln oder Wuseln anzeigt, dass es diese Position anstrengt. Ganz automatisch wird die Mutter oder der Vater das Baby dann in eine andere Position bringen, z. B. in Bauchlage quer über die Beine der Eltern. So würde das ein Baby, das selbst sitzen lernt, auch tun: Strengt es das Sitzen zu stark an, geht es automatisch aus dieser Position heraus und legt sich zum Weiterspielen auf den Bauch.

Gestütztes Sitzen im Hochstuhl


Viele Eltern wünschen sich, dass das Kind beim Breifüttern im Hochstuhl sitzt, weil das für den Fütternden weniger anstrengend ist. Dafür wird der Hochstuhl meist so weit gepolstert, dass das noch nicht frei sitzende Kind darin gut eingekeilt ist und nicht hin und her wankt. Ich verstehe zwar, warum die Eltern das tun, ich empfehle es trotzdem nicht. Auch beim durch Kissen gestützten Sitzen sind die physikalischen Kräfte auf die ungeübte Wirbelsäule und die Muskeln so stark, dass sich das für das Kind nicht nur unangenehm anfühlt, sondern auch Haltungsschäden drohen können.
 
Besser finde ich das Füttern auf dem Schoß, bzw. einfaches Abwarten, bis das Kind frei sitzen kann. Nicht vergessen: "Food before one ist just for fun!" (Essen vor dem 1. Geburtstag ist nur zum Spaß da - Milch reicht aus.)

 

Sitzen im hochgestellten Kinderwagen


Es gibt eine Zeit, da mögen Babys das Fahren im Kinderwagen wirklich überhaupt nicht mehr, da sie im Liegen nichts sehen können. Einige Eltern kommen dann auf die Idee, den Sitz hochzustellen, so dass das Babys darin gestützt sitzt. Ich empfehle das nicht - beim Fahren wirken die Unebenheiten des Gehwegs doppelt und dreifach auf die Wirbelsäule. Außerdem kann das Kind, da es oft angeschnallt ist, seine Position nicht gut wechseln und muss verharren, obwohl die Muskeln vielleicht schon ermüdet sind. Besser ist es, in dieser Zeit auf eine Tragehilfe zurückzugreifen bzw. das Baby auf den Bauch in den Wagen zu legen, so dass es nach vorn doch noch etwas sehen kann.

Sitzen im Fahrradsitz


Mir ist bewusst, dass viele Eltern auf das Fahrrad als Transportmittel angewiesen sind, doch ich empfehle trotzdem nicht, das Kind in einen Fahrradsitz zu setzen, bevor es selbst eine Weile frei sitzen kann. Das Fahrrad wird ordentlich durchgeschüttelt und die Wirbelsäule des Kindes wird enormen Kräften ausgesetzt, die es noch nicht aushalten kann. Dazu kommt, dass die Muskeln noch nicht genügend aufgebaut sind, die den - im Vergleich zum Körper noch sehr großen - Kopf halten sollen. Vielleicht könnt ihr es so organisieren, dass ihr für die kurze Zeit andere Transportmöglichkeiten nutzen könnt.

Sitzen im Autositz


In dem Alter, von dem wir sprechen, sitzen Kinder noch nicht im Autositz, sondern liegen eher in einer Babyschale für das Auto - das ist selbstverständlich in Ordnung. Da die gekrümmte Haltung darin allerdings eingeengt und das Atmen ein wenig erschwert, sollten Babys nicht zu lange darin transportiert werden. Im Auto müssen und dürfen sie genutzt werden, als Kinderwagenersatz sollten sie nicht herhalten.

 

Sitzen in der Trage/im Tragetuch


Für Außenstehende mag die Position des Kindes in der Trage/im Tragetuch an die Sitzposition erinnern, es ist aber kein echtes Sitzen, da das Baby vollständig von allen Seiten gestützt wird und die Kräfte nicht auf die Wirbelsäule wirken. In guten Tragen ist die Wirbelsäule übrigens gekrümmt und die Kniekehlen werden so gestützt, dass das Baby mit den Beinen ein M formt. Tragetücher und gute Tragen sind also ausdrücklich erlaubt. Die ausgleichenden Mikro-Bewegungen, die die Muskeln des Kindes in Resonanz zur Bewegung der Mutter machen, stimulieren sie sogar in positiver Weise.
 

Sitzen im Bumbo Seat

 
Der Bumbo Seat sieht ein wenig nach einem riesigen Töpfchen aus. Die Kinder können hinein gesetzt werden und verharren, gut von allen Seiten gestützt, in dieser Position. Der Bumbo Seat ist - Gott sei Dank - in Deutschland noch nicht besonders bekannt, jedoch schwappt die Welle gerade von den USA zu uns herüber. Als Sonderpädagogin mag ich den Sitz, allerdings - ACHTUNG! - ausschließlich für Kinder mit einer körperlichen Behinderung, z. B. einer Muskelschwäche, welche vermutlich nie selbst in eine sitzende Position kommen werden.

Für alle anderen Babys ist dieser Sitz absolut nicht zu empfehlen. Nicht nur behindert er das natürliche Sitzen-Lernen, die Babys können daraus auch nicht allein aussteigen, so dass sie so lange darin sitzen bleiben, bis sie wieder von ihren Eltern herausgehoben werden. So wird das natürliche Explorationsverhalten der Kinder komplett unterbunden und die Kinder zum Nichtstun gezwungen.
 

Fazit


Wie ihr seht, spricht absolut nichts dafür, sein Baby zu früh in eine sitzende Position zu bringen, aber alles dagegen. Lasst euer Kind seine eigenen Erfahrungen machen, seine Muskeln nach dem eigenen inneren Bauplan stärken, sich an seiner Selbstwirksamkeit freuen und die Meilensteine in seinem jungen Leben selbst erreichen. Dann macht ihr euer Kind glücklich, auch, wenn es zwischenzeitlich motzt, weil der Weg zu schwer erscheint. Räumt ihm keine Steine aus dem Weg. Es kann und will das alles allein schaffen.

© Snowqueen
 
 

Literatur

 
 
Hüther, G., Jedes Kind ist hoch begabt, 2013
 
Pikler, E., Lasst mir Zeit, 2001

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