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Über Belohnungssysteme, Tokensysteme und Verstärkerpläne

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Vor einiger Zeit machte mich Gabriele von Motherbook auf einen Artikel in der faz aufmerksam, in dem ein paar Lehrer ihre Geheimtipps gegen respektlose und laute Schüler verrieten. Allen voran ging es dort um Belohnungssysteme (auch als Verstärkerpläne oder Tokensysteme bezeichnet). Ich wurde gebeten, zu diesem Artikel und den darin enthaltenen Erziehungsmaßnahmen Stellung zu nehmen. Da ich diese sowohl als Mutter als auch als Sonderpädagogin einschätzen kann, ist mein Artikel zugleich an Eltern und an Pädagogen gerichtet.

Belohnungssysteme begleiten uns tagtäglich auf Schritt und Tritt in unserer Gesellschaft. Sie sind uns deshalb vertraut und fühlen sich nicht falsch an. Sie funktionieren augenscheinlich wunderbar - Kinder wie Erwachsene lassen sich von der in Aussicht gestellten Belohnung motivieren, sich zusammenzureißen und Dinge zu machen, auf die sie sonst womöglich keine Lust gehabt hätten. Sind Verstärkerpläne also eine gute Antwort auf alle Erziehungsprobleme?
 

Was sind Belohnungssysteme?

 
Ein Belohnungssystem, auch Token-System oder Verstärkerplan genannt, ist ein Verfahren aus der Verhaltenstherapie, bei dem eine Person für ein bestimmtes erwünschtes Verhalten belohnt wird.
 
Da die Belohnung im Alltag meist nicht unmittelbar zur Verfügung steht, wird zur Überbrückung der Zeit zwischen positivem Verhalten und Belohnung eine Art Tauschwert ausgegeben, die sogenannten Token (übersetzt vielleicht in etwa: Münzen). Es müssen keine Münzen sein, als Token eignet sich alles, was sich sammeln lässt: Aufkleber, Sternchen, Murmeln, Smileys etc. Diese werden meist auf einen Verstärker-Plan geklebt oder - bspw. bei Murmeln - in einem Glas gut sichtbar aufbewahrt. 

Hat eine Person eine vorher festgelegte Anzahl von Token erarbeitet, kann sie diese gegen eine Belohnung eintauschen. Diese Belohnung (primärer Verstärker) muss immer individuell abgestimmt sein auf die Person, die das erwünschte Verhalten zeigen soll, sonst wirkt sie nicht verstärkend. Das könnten z. B. Lieblingssüßigkeiten sein oder Aktivitäten, die die Person besonders schätzt oder auch ein Spielzeug, das sie sich schon lange wünscht. Belohnungssysteme beruhen immer auf dem Prinzip der operanten Konditionierung und wurden zunächst in geschlossenen Institutionen wie psychiatrischen Kliniken angewendet.
 

Welche Arten von Belohnungssystemen gibt es?


Verstärkung positiven Verhaltens


Ein Kind soll ein negatives Verhalten ablegen und sich stattdessen ein positives Verhalten aneignen. Bei einem System mit positiver Verstärkung würden alle Vorkommnisse des negativen Verhaltens ignoriert werden. Das erwünschte Verhalten würde von den Erwachsenen durch Lob und ein kleines Token honoriert werden. Das Kind würde also z. B. ein Sternchenaufkleber bekommen, den es in seinen Verstärkerplan kleben kann. Hat es eine bestimmte Anzahl der Aufkleber gesammelt, darf es diese Eintauschen z. B. gegen einen Besuch im Zoo. Wichtig dabei ist, dass die Belohnung von dem Kind nicht anderweitig erhalten werden kann. Wird also als Belohnung ein Überraschungsei in Aussicht gestellt und das Kind erhält sowieso bei jedem Einkauf ein solches Ei, wird diese Belohnung ihre Wirkung verfehlen.

Bestrafung negativen Verhaltens (Verstärker-Entzugs-System)


Wütendes KindEin Kind soll negatives Verhalten ablegen und sich an dessen Stelle ein positives Verhalten aneignen. Dazu bekommt es zunächst eine bestimmte Anzahl von Token (z. B. 10 Murmeln) zugeteilt. Immer, wenn es das negative Verhalten zeigt, wird ihm ein Token abgezogen. Sind am Ende des vorher festgelegten Zeitraumes alle Token weg, wird dem Kind ein Privileg entzogen. Es darf z. B. nicht mit auf einen Familienausflug, oder es darf an diesem Tag nicht zu seinem geliebten Schwimmunterricht gehen.

Ist noch mindestens ein Token vorhanden, darf es teilnehmen. Die Idee dahinter ist, dass sich das Kind anstrengen wird, das unerwünschte Verhalten nicht zu zeigen, um sein Privileg nicht entzogen zu bekommen. Das entzogenen Privileg muss aber, wie die Belohnung bei der positiven Verstärkung, individuell auf das Kind abgestimmt sein, sonst verfehlt es seine Wirkung bzw. spornt vielleicht sogar noch an, negatives Verhalten zu zeigen. Möchte das Kind beispielsweise gar nicht mit auf den Familienausflug, könnte es sein, dass es absichtlich unerwünschtes Verhalten zeigt, um dieses "Privileg" entzogen zu bekommen.

Verstärkung positiven Verhaltens bei gleichzeitiger Bestrafung negativen Verhaltens


Ein Kind soll negatives Verhalten ablegen und sich an dessen Stelle ein positives Verhalten aneignen. Es erhält für gezeigtes erwünschtes Verhalten Token, die es sammeln kann. Zeigt es unerwünschtes Verhalten, werden ihm die selbst erarbeiteten Token wieder entzogen. Hintergrund dieses Systems ist eine Versuchsreihe mit Ratten im Labor: drückten diese den falschen Knopf, erhielten sie ein Futter, welches ihnen leichte Übelkeit brachte, drückten sie den richtigen Knopf, erhielten sie ein echtes Leckerli. Diese Ratten lernten schneller, den falschen Knopf zu meiden und den richtigen zu drücken, als ihre Versuchskollegen. So soll auch das Kind schneller begreifen, dass erwünschtes Verhalten schneller zur Belohnung führt, wenn zwischendurch kein unerwünschtes Verhalten gezeigt wird.

 

Belohnungssysteme im privaten Bereich


In welchen Situationen können Tokensysteme eingesetzt werden?


Tokensysteme funktionieren nur dann, wenn das Kind zumindest ansatzweise in der Lage ist, das gewünschte Verhalten zu zeigen. So können Tokensysteme also für alles eingesetzt werden, das dem Reifestand des Kindes entspricht und durch Wiederholung und positive Rückmeldung eingeschliffen werden soll. Denkbar wäre z. B. der Einsatz eines Tokensystems für Situationen wie das Nachhausekommen: Zieht sich das Kind selbständig die Schuhe aus und stellt sie auf den richtigen Platz, hängt es seine Jacke auf, zieht es seine Hausschuhe an und geht dann Händewaschen, dann könnte es im Anschluss einen Aufkleber auf seinen Belohnungsplan kleben. Die Eltern könnten auch kleinschrittiger vorgehen und z. B. ein Sternchen nur für das Aufhängen der Jacke geben, wenn das der besondere Streitpunkt zwischen ihnen und dem Kind war.

Ebenso für einen Verstärkerplan geeignet ist der Toilettengang: Geht das Kind auf die Toilette, putzt sich ab, spült und säubert mit der Bürste und wäscht sich hinterher die Hände mit Seife, dann würde es dafür einen Token erhalten. Manche Eltern wollen den Toilettengang an sich durch ein Verstärkersystem forcieren. Ist das Kind schlicht "zu faul", auf Toilette zu gehen und macht lieber in die Windel, dann könnte ein Verstärkerplan den Anreiz geben, die Faulheit zu überwinden. Das klappt aber nur dann, wenn das Kind seine Blase und seinen Darm tatsächlich schon unter Kontrolle hat!

Denkbar wäre ein Verstärkersystem auch beim leidigen Thema Aufräumen. Soll das Kind abends das Spielzeug im Kinderzimmer wieder wegräumen und tut das ohne Murren, dann könnte es durch ein Sternchen auf dem Verstärkerplan belohnt werden. Das gleiche gilt für das Anziehen der Sachen am Morgen - zieht das Kind sich morgens selbständig an, könnte es dafür einen Aufkleber auf seinen Plan kleben.

 

In welchen Situationen können Tokensysteme nicht eingesetzt werden?

 
Wollen Eltern ein Kind durch ein Belohnungssystem mehr oder minder überreden, aufs Töpfchen zu gehen, obwohl dies noch nicht dem Reifegrad des Kindes entspricht, kann das nicht funktionieren und wird zu Frustrationen führen. Beim Kind, weil es das Gefühl hat, zu versagen und körperlich nicht in der Lage ist, dies zu ändern. Bei den Eltern, weil sie sich Erfolg versprochen haben und nun vielleicht sauer auf das Kind werden, dass es nicht "funktioniert" (ja, das Kind), obwohl doch eine Belohnung in Aussicht gestellt wurde.
 

Der wichtigste Punkt bei Einführung eines Tokensystems ist also, ob das Kind das gewünschte Verhalten zumindest ansatzweise beherrscht. Zieht es sich in eine Ecke zurück, um dort in Ruhe in die Windel machen zu können, kann man als Eltern davon ausgehen, dass es seine Darmentleerung soweit unter Kontrolle hat und ein Verstärkersystem wirken könnte.
 
Der zweitwichtigste Punkt für ein gelingendes Einführen eines Tokensystems ist aber auch, dass das Kind aktiv damit einverstanden ist, sich durch Belohnungen zur Änderung seines Verhaltens manipulieren zu lassen. Macht es sein großes Geschäft z. B. noch in die Windel, weil es Angst hat, das auf der Toilette zu tun (Stichwort: etwas von sich selbst loslassen können), wird es vermutlich auch durch ein Belohnungssystem nicht davon überzeugt werden, seine Angst zu überwinden. Dann sollten die Eltern davon absehen, einen Verstärkerplan einzuführen.

Ebenso wenig sinnvoll ist es, ein Tokensystem einzuführen, wenn ein Kind haut, kneift oder beißt, auch, wenn es grundsätzlich in der Lage ist, Konflikte auch ohne Gewalt zu lösen. Kinder hauen, kneifen und beißen jedoch meist im Affekt. Da die Impulskontrolle bei ihnen noch lange nicht ausgereift ist, kann auch ein Verstärkersystem nur wenig ausrichten. Das Kind wird trotzdem im Affekt zuhauen, einfach, weil das eine Kurzschlussreaktion des Gehirns ist - und sich hinterher darüber ärgern, dass es nun einen negativen Punkt auf dem Verstärker-Entzugs-Plan hat.

Denn das ist das zweite Problem an der Nutzung von Tokensystemen bei impulsivem Hauen, Kneifen und Beißen: Man kann als Elternteil oder als Erzieher/in im Normalfall nicht sehen, wann ein Kind nicht zugebissen hat, obwohl es den Impuls dazu hatte. Wenn man das möchte, muss man das Kind schon sehr, sehr genau beobachten und in brenzligen Situationen erkennen, wann der Impuls unterdrückt wurde. Das mögen Profis können, aber die Mehrzahl der Eltern eher nicht. Deshalb würden also Eltern normalerweise auf ein Verstärker-Entzugs-Programm zurückgreifen, dem Kind also immer dann einen Punkt abziehen, wenn es gebissen oder gehauen hat. Das wiederum bringt aber den Fokus der Erziehung zu sehr auf das negative Verhalten und ein Kreislauf aus impulsivem Verhalten, Bestrafung, Frust und Rachegefühlen würde beginnen.

Das wäre für mich persönlich ein Ausschlusskriterium für die Nutzung eines solchen Verstärker-Entzug-Plans, denn letzten Endes läuft dieser immer auf eine Strafe hinaus. Doch Strafen lösen bei Kindern vor allem eins aus: Trotz. Kinder, die bestraft werden, entwickeln einen inneren Zorn, den sie entweder an Schwächeren auslassen oder später dann an ihren Eltern. Dieser innere Zorn lässt eine emotionale Lücke zwischen den Eltern und dem Kind entstehen, die nur noch schwer zu schließen ist. Je öfter ein Kind bestraft wird, desto weiter entfernt es sich emotional von seinen Eltern. Ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber wenn ich alt und gebrechlich bin, wäre es mir sehr lieb, wenn meine Kinder von sich aus regelmäßig Kontakt zu mir halten würden und zwar nicht aus Pflichtgefühl, sondern gern. Deshalb wähle ich meine Erziehungsmethoden mit Bedacht und achte darauf, dass sie die Würde des Kindes nicht verletzen.

 

Welche positiven Aspekte gibt es?


Manche Kinder registrieren positives Feedback nicht oder nur unzureichend im Alltag (sie hören das Lob also nicht) und haben deshalb eher das Gefühl, alles falsch zu machen bzw. nur unzureichend in den Augen der Eltern zu sein. Für diese Kinder sind Token eine gute Sache, weil sie ganz klar den Moment hervorheben, in dem sie sich "richtig" verhalten haben. Außerdem sind Token zählbar, d. h. das Kind kann am Ende eines Tages nachvollziehen, wie oft es von seinen Eltern gelobt worden ist. Das kann sich positiv auf das Selbstwertgefühl des Kindes auswirken.

Ein Tokensystem kann sich auch positiv auf den Blick der Eltern auswirken, wenn diese am Ende des Tages genau sehen können, wie oft ihr Kind eine bestimmte Sache am Tag gut gemacht hat. So können auch Eltern besser nachvollziehen, wie stark sich ihr Kind eigentlich anstrengt. So könnte das Belohnungsssystem auch für die Eltern eine Hilfe darstellen, aus einer Spirale des negativen Denkens ("Mein Kind ist so unordentlich - nie räumt es auf. Immer muss ich aufräumen!") auszubrechen.

Tokensysteme machen gewünschtes Verhalten transparent. Das bedeutet, Kinder können durch die Token klar nachvollziehen, welches Verhalten genau von den Eltern als positiv bewertet wird, und welches nicht. Diese Art der Transparenz ("Wenn ich die Hände nach dem Nachhausekommen wasche, bekomme ich ein Sternchen, wasche ich sie nicht, bekomme ich keins.") gibt Kindern einen klaren Weg vor und bietet ihnen somit Verhaltenssicherheit ("Meine Elter möchten, dass ich mir die Hände wasche, nachdem wir nach Hause gekommen sind.") Diese Erkenntnis mag banal klingen, ist sie aber nicht. Oft genug sagen Eltern ihren Kindern nämlich, was sie nicht tun sollen, vergessen aber zu erklären, was das Kind stattdessen tun soll. ("Hör auf, mit dem Sand zu werfen, du triffst dabei deine Schwester!" versus "Wirf den Sand dorthin, wo niemand sitzt, damit du keine anderen Kinder aus Versehen triffst!")

Welche negativen Aspekte gibt es?


Ein Belohnungssystem ist eine Methode, die nur oberflächlich an sichtbarem Verhalten ansetzt, aber die Gründe für dieses Verhalten komplett ignoriert. Das ist im Falle von Händewaschen oder Zimmer aufräumen nicht problematisch, denn dahinter stehen meist keine tieferliegenden Probleme. Kinder räumen einfach ungern auf und sie haben eben besseres zu tun, als sich ständig die Hände zu waschen.

Leider werden Belohnungssysteme aus Unwissenheit im Alltag auch für andere Schwerpunkte eingesetzt. Kinder erhalten z. B. dann einen Punkt, wenn sie "lieb" sind, ihre Geschwister nicht ärgern, nachts nicht einpullern oder ihr Essen brav aufessen. Das finde ich schlimm, denn es signalisiert den Kindern: "Ich interessiere mich nicht dafür, warum du deine Schwester ärgerst, ich möchte nur, dass du damit aufhörst. Mir ist wichtig, dass du funktionierst, aber ich mache mir nicht die Mühe, herauszufinden, was dich dazu veranlasst, das störende Verhalten zu zeigen".

Ich finde es bemerkenswert, dass viele Eltern hier noch kein Problembewusstsein entwickelt haben. Während Schlaflernprogramme bei Babys mittlerweile bei so gut wie allen verpönt sind, werden Verhaltenlernprogramme wie Tokensysteme jedoch eher positiv beurteilt. Dabei ist das doch eigentlich das Gleiche - bei dem einen wird den Babys antrainiert, nachts ein in den Augen der Erwachsenen störendes Verhalten (Schreien) abzustellen, bei dem anderen wird Kindern antrainiert, tagsüber ein in den Augen der Erwachsenen störendes Verhalten (ärgern, einpullern, lautes Brüllen, Wutanfälle) abzustellen. Beide Male werden die echten Bedürfnisse des Kindes ignoriert, damit der Erwachsene schnell seine Ruhe hat.

Der größte negative Aspekt von Tokensystemen ist ihre Wirkung auf die neuronalen Bahnen im Gehirn. Wird einem Kind beigebracht, dass seine Aktionen immer von den Eltern durchgesetzte, positive oder negative Konsequenzen haben, bilden sich in seinem Gehirn relativ kurze, wenig verschachtelte Nervenbahnen. Ich nenne sie hier mal der Einfachheit halber "Wenn-Dann"-Nervenbahnen.

Diese "Wenn-Dann"-Nervenbahnen sind aufgrund ihrer wenig komplexen Natur recht bald im Gehirn aufgebaut, d.h. ein Kind reagiert verblüffend schnell auf diese elterliche Taktik: "Wenn du nicht aufhörst, mit Sand zu werfen, gehen wir gleich nach Hause!" (direkter Entzug von Privilegien), oder auch auf: "Wenn du jetzt leise bist, gehen wir gleich ein Eis essen" (Belohnung). Das fühlt sich natürlich erst einmal fantastisch an für die Eltern, die sich freuen, ihre elterliche Kompetenz unter Beweis gestellt zu haben. Ich kann daher gut verstehen, dass viele, viele Eltern darauf zurückgreifen und ja, auch mir sind schon mehr als einmal solche Sätze über die Lippen gekommen, wenn ich nicht die Kraft hatte, mich mit dem eigentlichen Problem des Kindes auseinanderzusetzen.
 
Schmutziges Kind isst Eis
Leider werden die Wenn-Dann-Nervenbahnen im Gehirn nicht richtig aktiviert, sobald keine strafende Autorität im Hintergrund steht und mit einer Konsequenz droht. Sprich: Ein Kind, das gelernt hat, dem anderen die Schippe nicht wegzunehmen, weil es sonst nach Hause muss oder einen negativen Punkt am Verstärkerplan bekommt, wird an anderer Stelle einem anderen Kind trotzdem den Roller wegnehmen, wenn seine Eltern nicht dabei sind! Ein Kind wiederum, das keine kurzen Wenn-Dann-Nervenbahnen ausgebildet hat, sondern lange, verschachtelte Nervenbahnen, die sich aus echtem Verständnis für die Situation des anderen Kindes entwickelten, würde auch ohne Autorität im Hintergrund das unerwünschte Verhalten unterlassen. Es würde dem anderen Kind den Roller nicht wegnehmen, weil es wüsste, wie traurig dieses sich dann fühlt. Dazu muss es aber viele, viele Male diese Situation durchgemacht haben, sowohl als Wegnehmer, als auch als Weggenommen-Bekommener, um Verständnis für beide Seiten zu entwickeln und es muss auch schon ein bestimmtes Alter (etwa ab 4) haben, um überhaupt die Perspektive des anderen Kindes einnehmen zu können.

Am allerbesten gelingt den Kindern das übrigens, wenn wir Erwachsenen uns aus den Kinderkämpfen heraushalten. Das Einfühlen in die Situation eines anderen hat nämlich als Voraussetzung, dass das Kind die Gefühle des anderen selbst schon einmal erlebt hat und weiß, was ihm selbst in dieser Situation als Trost geholfen hat. Greifen wir Erwachsenen andauernd schlichtend ein, werden aber diese Situationen, in denen Kinder über sich und ihre Gefühle klar werden, verkürzt, so dass sie gar nicht lernen können, wie doof es sich anfühlt, wenn ein anderer einem den geliebten Roller entreißt.

Durch das Eingreifen des Erwachsenen ist ja der entwendete Roller in Windeseile schon wieder beim originalen Besitzerkind - dieses kann in der kurzen Zeit gar nicht richtig traurig werden. Es lernt deshalb auch nur ansatzweise, sich in die Gefühlswelt eines anderen Kindes hineinzufühlen, dem etwas weggenommen wurde. Das heißt übrigens nicht, dass wir Erwachsene unser Kind, wenn es etwas weggenommen bekommt, nicht trösten sollen. Trösten ist für Kinder sehr wichtig!

Ein weiterer negativer Punkt ist die subjektive Wirkung auf das Kind. Wenden Eltern die Methode des Tokensystems zu oft an, könnte beim Kind die Botschaft ankommen: "Du bist nicht okay, so wie du bist. Es gibt so vieles, das wir an dir ändern wollen." Ganz sicher wird das nicht passieren, wenn die Eltern einmalig einen Verstärkerplan einsetzen, um beispielsweise die morgendliche Anzieh-Routine einzuschleifen. Werden Tokensysteme jedoch für viele verschiedene "Baustellen" beim Kind angewandt, könnte es eben doch sein, dass das Kind die bedingungslose Liebe der Eltern in Frage stellt. Auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift.

Wie geht es ohne Tokensystem?


Ich bin persönlich kein großer Fan von Tokensystemen innerhalb einer Familie - das konntet ihr vielleicht bis hier her schon herauslesen. Ich verdamme sie aber auch nicht - sie sind einfach eine Methode, die mir selbst nicht liegt. Ich sehe jedoch durchaus, dass sie, im richtigen Kontext angewendet, bestimmte Streitpunkte zwischen Eltern und Kind in kurzer Zeit auflösen können. Davon profitieren alle - eine win-win-Situation also.

Mir wird oft die Frage gestellt, wie man es denn ohne Verstärkersystem schafft, seine Kinder dazu zu bringen, z. B. regelmäßig aufzuräumen ohne dass man jedes Mal erst schimpfen muss. Das ist eine gute Frage - und ich habe darauf keine befriedigende Antwort. Meine Kinder räumen nicht regelmäßig auf, sie werfen ihre Jacke manchmal nach dem Nachhause-Kommen auf den Boden, sie vergessen häufig, nach dem Toilettengang zu spülen und leeren ab und zu gedankenverloren den Buddelsand aus ihren Schuhen in unserem Flur. Damit habe ich vielleicht in den Augen mancher Eltern versagt, aber so richtig doll stresst mich das nicht. Ich bin mir ganz sicher, dass meine Kinder die Kompetenzen des Spülens, des Aufräumens und des Jacke-Aufhängens auch ohne meine Nörgelei erwerben werden. Dann nämlich, wenn es für sie wichtig ist. Das mag erst dann sein, wenn sie ihre eigene Wohnung haben oder vielleicht sogar erst, wenn sie eigene Kinder bekommen. Doch irgendwann werden sie es können. Mir ist bewusst, dass sie ihre Nachlässigkeit nicht böse meinen, deshalb kommt es deswegen bei uns nur selten zum Streit. Ich war selber einmal klein und weiß, dass alles andere in dem Moment wichtiger ist - diesen kindlichen Blick habe ich mir bewahrt.

Habe ich einen schlechten Tag und mich stört das Chaos doch zu sehr, dann rede ich gewaltfrei mit meinen Töchtern und bitte sie, aufzuräumen. Das passiert dann - oder manchmal auch nicht. Wichtigster Teil der Bitte in der Gewaltfreien Kommunikation ist ja, dass der andere auch "nein" sagen darf. Ab und zu frage ich auch augenzwinkernd in die Runde, ob ich Cinderella bin und meine Töchter Drisella und Anastasia. Diesen Wink verstehen meine fast Fünfjährigen nun schon, und dann trollen sie sich zu mir, um mit mir gemeinsam aufzuräumen. 

Insgesamt versuche ich, ihnen einfach ein gutes Beispiel zu sein. Ich bin selber keine ausgesprochene Putzfee - ich kann Aufräumen nicht leiden. Eine Freundin, bei der es immer wunderbar sauber ist, gab mir den Tipp, jeden Tag nur 15 Minuten intensiv aufzuräumen - mehr nicht. Das mache ich seit einer Weile und ich muss sagen, es klappt wunderbar. 15 Minuten sind nicht viel, so dass ich mich vor dieser Zeit nicht drücken muss. Es bleibt aufgrund der Zeitknappheit auch so manches liegen. Das räume ich dann am nächtsen Tag weg. Aber peu à peu wird es bei uns aufgeräumter. Meine Kinder sehen, dass Aufräumen nicht weh tut und dafür nur wenig Zeit von wirklich wichtigen Lebensinhalten, wie Spielen, verloren geht.

Was das Anziehen angeht - da gibt es ein paar Tricks, die helfen, dass sich ein Kind morgens auch ohne Verstärkerplan anzieht - dazu in Kürze mehr in einem gesonderten Artikel.
 

Belohnungssysteme in der Schule/im Kindergarten


In welchen Situationen können Token-Systeme eingesetzt werden?


Auch in der Schule sollten Tokensysteme nur für Verhalten eingesetzt werden, das einen unproblematischen Hintergrund hat und einfach eingeschliffen werden soll. Es ist zum Beispiel möglich, dass Schüler_innen ein Token erhalten, wenn sie die Pause dazu nutzen, die Materialien der letzten Stunde in ihrer Schultasche zu verstauen und die neuen Materialien ordentlich auf ihren Tisch zu legen. Auch, wenn der/die Lehrer_in Hausaufgaben vergibt, könnte er/sie den Schüler_innen, die diese angefertigt haben, ein Token dafür geben. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, dass Schüler, die 5x hintereinander die Hausaufgaben gemacht haben, einen "Hausaufgaben-Gutschein" erhalten, den sie solange aufheben können, bis sie irgendwann einmal vergessen haben, die Hausaufgaben zu machen. In dem Fall könnten sie dann den "Hausaufgaben-Gutschein" einlösen. Die vergessene Hausaufgabe wird ihnen dann nicht als negativ angekreidet. Kinder, die am Ende des Monats noch alle Hausaufgaben-Gutscheine haben, ohne einen eingelöst haben zu müssen, könnten diese dann beispielsweise gegen eine Fleiß-Note 1 eintauschen.


Klassenzimmer

Kinder, die an ADHS leiden, können durch ein Belohnungssystem dazu gebracht werden, störendes unruhiges Verhalten größtmöglich einzuschränken. Da das Verhalten keinen anderen Hintergrund als die gehirnbiologische Störung hat, ist eine Anwendung in diesem Fall okay, denn meist wollen die Kinder selbst lernen, gesellschaftskonformer zu agieren. Der Erwachsene muss jedoch im Hinterkopf behalten, dass das "Zusammenreißen" für diese Kinder eine enorme Kraftanstrengung bedeutet, weil ihr Körper sie immer wieder betrügt. Gerade bei diesen Kindern ist es deshalb wichtig, sehr kleinschrittig vorzugehen. Hat der/die Schüler_in oder das Kindergartenkind sich beispielsweise für 5 Minuten auf eine Aufgabe konzentriert, sollte es schon ein Token erhalten.

Sinnvoll ist auch, Kindern mit ADHS permanente nonverbale Rückmeldung mittels Ampelkarten zu geben. Dabei hält der Erwachsene drei Karten (grün, gelb, rot) in der Hand, während er seinen Unterricht gibt. Er hat das betreffende Kind dabei immer im Blick und legt diesem je nach Verhalten die grüne, gelbe oder rote Karte auf den Tisch, wobei vor einer roten Karte immer erst eine gelbe Karte kommen muss. Diese Rückmeldung per Karten kann, wenn nötig, im Sekundentakt geschehen (wenn sich das Verhalten so schnell ändert). Meist ist es jedoch so, dass die grüne Karte auf dem Tisch liegt. Nach ein paar Minuten wird das Kind unruhiger und lauter, also tauscht der Lehrer ohne ein Wort die grüne gegen die gelbe Karte aus. Das reicht meist schon, damit das Kind merkt, dass es lauter geworden ist - es wird wieder ruhiger, daher legt der Lehrer sofort wieder die grüne Karte auf den Tisch. Die rote Karte signalisiert inakzeptables Verhalten.

Man kann mit dem Kind absprechen, ob es, wenn die rote Karte auf dem Tisch lag, eine Pause im Nebenraum möchte. Ich möchte betonen, dass diese Pause nicht als Strafe zu verstehen ist und dem Kind auch niemals so vermittelt werden sollte. Das Kind soll selbst entschieden können, ob es in der Lage ist, sein Verhalten wieder anzupassen, oder ob es von der Anstrengung so geschafft ist, dass es in einem anderen Raum erst einmal durchatmen möchte. Diese Pause als Strafe einzuführen, ist der absolut falsche Weg und ich möchte nicht, dass irgendjemand, der diesen Text liest, mich falsch versteht und diese Methode so strafend durchführt.

Es gibt Kinder, die bei allen Aufgaben erst einmal ewig brauchen, um anzufangen. Sie können sich im Kindergarten während der Freiarbeit nicht schnell entscheiden, welche Aufgabe sie sich nehmen wollen oder sitzen in der Schule vor Arbeitsblättern erst einmal lange, ohne zu beginnen. Manchmal dauert dieses Zögern auch die gesamte Stunde. Dieses Phänomen nennt sich "Schwellenangst" - die Kinder haben Schwierigkeiten, den ersten Schritt zu tun. Ist dieser erst einmal geschafft, arbeiten sie meist gut und problemlos weiter. Auch Erwachsene leiden manchmal darunter - diese sind dann meist Weltmeister im Prokrastinieren. ;-)

Es ist möglich, Kinder mit Schwellenangst dazu zu motivieren, zügig zu beginnen, indem man ein Verstärkerplan einführt. Immer, wenn es innerhalb von 5 Minuten mit dem Arbeitsblatt beginnt, würde es dann ein Token erhalten. Ich würde jedoch zunächst als Lehrer_in/Erzieher_in Hilfestellung geben, indem ich mich neben das Kind setze und es ermuntere, zu beginnen bzw. ihm die erste Aufgabenstellung vorlese und leise bespreche, wie das Kind vorgehen könnte. Als hilfreich hat sich auch erwiesen, das Arbeitsblatt des Kindes so zu knicken, dass zunächst nur eine einzige Aufgabe zu sehen ist und nicht das gesamte Blatt. Letzteres macht den Kindern mit Schwellenangst nämlich ebenso viel Angst, wie ein leeres Blatt einem Autor mit Schreibblockade.

Wie beim Einsatz der Verstärkersysteme in der Familie gilt auch in der Schule: Die Methode kann für jegliches Verhalten eingesetzt werden, dass durch Routine eingeschliffen werden soll, nicht aber für Verhalten, das einen triftigen Grund im Hintergrund hat.

In welchen Situationen können Token-Systeme nicht eingesetzt werden?


Wie man dem Artikel der Frankfurter Allgemeinen entnehmen kann (und vielen anderen Publikationen auch), werden Belohnungssysteme in der Schule oder im Kindergarten leider vor allem als "positive" Disziplinierungsmethode bei lautem oder respektlosem Verhalten angewandt. Bei allem Verständnis für die Not der Kollegen blutet mir jedoch bei solchen Schilderungen regelmäßig das Herz, einfach, weil Kinder zum Funktionieren gebracht werden sollen, ohne dass sich jemand die Mühe macht, hinter ihr Verhalten zu schauen.

Was geht in einem Kind vor, das nicht auf den/die Lehrer_in oder Erzieher_in hört? Hat es sich morgens mit den Eltern gestritten? Spielt die beste Freundin nun plötzlich mit einer anderen? Gibt es Existenznöte, hat es genug zu Essen? Es gibt immer einen Grund für auffälliges Verhalten. Natürlich kann ein/e Lehrer_in/ Erzieher_in nicht alle Probleme seiner/ihrer Schützlinge lösen. Das soll er/sie auch nicht. Aber zuhören, das kann er/sie. Das Zuhören, es ist so wichtig.

Ein Kind, das mit Problemen in den Kindergarten/die Schule kommt, hat keine Kapazität für Lernen übrig. Es ist in Gedanken damit beschäftigt, über das eigentliche Problem nachzudenken bzw. sich traurig zu fühlen. Erst, wenn ihm jemand zuhört, kann es das Problem im Kopf beiseite schieben, und sich für das Lernen öffnen. So anstrengend das ist, die Aufgabe eines Lehrers/eines Erziehers besteht in meinen Augen nicht nur in Wissensvermittlung, Erziehung und Bewertung - manchmal müssen wir einen Schritt weiter gehen und den uns anvertrauten Kindern zeigen, dass wir ihnen eine zuverlässige Stütze sind, wenn das die anderen Menschen in ihrem Leben nicht können.

Belohnungssysteme sollten daher nicht angewandt werden, wenn ein/e Schüler_in im Unterricht stört, wenn er/sie absichtlich laut oder aggressiv ist, wenn er/sie sich respektlos Erwachsen gegenüber benimmt, wenn er/sie andere Kinder drangsaliert oder anderweitig auffälliges Verhalten zeigt. In solchen Fällen ist die Anwendung kontraproduktiv.

Ein wenig anders gelagert ist der Fall, wenn ein/ Lehrer_in eine Klasse übernimmt und diese so vom alten Lehrer demotiviert wurde, dass sie dem neuen Lehrer gar nicht erst die Chance geben, zu zeigen, wie spannend der Unterricht sein kann. Wenn die Klasse also von Anfang an laut und wild ist, ohne jemals zugehört zu haben, dann kann man als Interimlösung kurzzeitig ein Tokensystem einführen und "leises" Verhalten belohnen. Man muss es als Lehrer_in in dieser kurzen Zeit jedoch schaffen, die Schüler_innen zu überzeugen, dass der Unterricht eben doch interessant ist und dass es sich lohnt, zuzuhören. Ein Tokensystem ist und bleibt eine methodische Krücke, auf die man sich nur im Notfall dann stützen sollte, wenn einem auf pädagogischer Ebene nichts anderes mehr einfällt. Sie ist im Prinzip eine professionelle Bankrotterklärung - das sollte man immer im Hinterkopf behalten.

Welche positiven Aspekte gibt es?


Belohnungssysteme zeigen Kindern auf, welches Verhalten in ihrem Land als gesellschaftlich adäquat angesehen ist. Sie sind quasi ein Verhaltens-Kompass, der die Navigation in großen Gruppen ohne anzuecken möglich macht. Sie machen erwünschtes Verhalten in Gruppen transparent und bieten somit Verhaltenssicherheit, auch, wenn die Regeln in der Kleinfamilie anders lauten. ("Zuhause müssen wir nicht sitzen bleiben, bis alle aufgegessen haben, in der Kita schon.")

Durch Belohnungen können Kinder dazu gebracht werden, sich dazu zu überwinden, auch ungeliebte Aufgaben zu machen (Tafel wischen, Ordnung halten etc.).

Haben die Kinder es geschafft, genügend Token zu sammeln, um die Belohnung zu erhalten, merken sie, dass es sich lohnt, durchzuhalten und beharrlich auf ein Ziel hinzuarbeiten. So verstärkt sich möglicherweise ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit und positive Verhaltensmuster (Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen, Anstrengung wagen) können sich etablieren. Dies ist aber nicht ausschließlich nur durch Tokensysteme zu erreichen, sondern eigentlich durch alle Aktivitäten, bei denen ein Kind ein Erfolgserlebnis hat (z. B. wenn es mehrere Tage übt, auf einen Baum zu klettern und es am Ende schafft).
 
Verstärkerpläne sind ein hilfreiches Druckmittel für Lehrer_innen und Erzierher_innen, um Kinder zumindest kurzzeitig dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollen. Beachtet werden muss aber, dass diese Verhaltensänderung immer nur von kurzer Dauer ist, wenn der Grund für das Verhalten nicht gefunden und beseitigt wird.

Welche negativen Aspekte gibt es?


Werden Verstärker zu oft oder an unnützer Stelle gegeben, kann es sein, dass die intrinsische Motivation der Kinder gegen rein extrinsische Motivation ausgetauscht wird. Es kann sein, dass Aufgaben dann nicht mehr aus eigenem Antrieb gemacht werden, sondern nur noch für Belohnungen. Diese Kinder (und Erwachsenen) stellen dann immer die Frage: "Und was bekomme ich dafür?" bzw. "Und was bringt mir das ein?" - kein besonders sympathischer Charakterzug.  Da sich Belohnungen leicht abnutzen, müssen diese immer größer oder teurer werden, um den gleichen Grad an Motivation hervorzurufen.

In Gruppen angewandt können Belohnungssysteme die Konkurrenz und Eifersucht unter Kindern anfachen. Das mag bis zu einem gewissen Grad vorteilhaft für den Erwachsenen sein (z. B. wenn sich Kinder darin übertrumpfen wollen, wer am besten aufräumt), aber es stört die harmonische Beziehung und das soziale Miteinander der Kinder und fördert eine Ellenbogengesellschaft.

Sie erzeugen Druck. In Schule oder Kindergarten werden die Verstärkerpläne ja meist für die gesamte Gruppe der Kinder eingeführt. Zu sehen, wie scheinbar mühelos die anderen lachende Smileys sammeln, während man selbst oft weinende Smileys in den Plan kleben muss, kann Kinder furchtbar stressen, so dass eher das Gegenteil erreicht wird. Erhält ein Kind zu schnell zu viele negative Punkte auf dem Plan, oder hat es gegen Ende der vereinbarten Zeit noch lange nicht genug positive Token gesammelt, kann sich der Eifer, es schaffen zu wollen, umkehren in eine "Mir-doch-egal"-Mentalität.
 
KlassenzimmerDann kann es sein, dass das Kind extra stört, weil es lieber bewusst verlieren möchte, als sich angestrengt und zusammengerissen zu haben und das Ziel trotzdem nicht zu erreichen. Auch Kinder, die eigentlich vom Lehrpersonal als unproblematisch eingestuft werden, können durch Tokensysteme unter Druck geraten. So traute sich die Tochter einer Freundin von mir nicht mehr, in die Schule einen Apfel mitzunehmen. Der Grund war, dass die Lehrerin eine Lärmampel nutzte und jedem Kind, das zu laut war (Ampel springt auf Rot), ein Token wegnahm. Das Mädchen meiner Freundin wurde dadurch so eingeschüchtert, dass sie sich kaum noch traute irgendeinen Laut von sich zu geben - sie wollte nicht in den Apfel beißen, um nur nicht die Lärmampel zu aktivieren!
 

Wie geht es ohne Tokensysteme in Schule und Kindergarten?

 
Als ich vor vielen Jahren im Schuldienst anfing, fiel mir auf, dass es Lehrer_innen gab, die es scheinbar mühelos schafften, dass alle Klassen bei ihnen leise und aufmerksam dem Unterricht folgten. Ich fragte nach dem Geheimnis, doch kein/e der Kolleginnen und Kollegen konnte mir so recht sagen, was sie konkret dafür taten. Also musste ich durch mühevolle Beobachtung und Selbstversuche herausfiltern, was eine/n gute/n Lehrer_in (Erzieher_in) ausmacht:

Der wichtigste Punkt ist, eine gute, tragfähige Beziehung zu euren Schützlingen aufzubauen. Ihr müsst die Schüler_innen nicht lieben - ihr seid nicht die Eltern - aber mögen solltet ihr sie. Diese Sympathie darf nicht vorgespielt sein. Schüler_innen merken sofort, wenn ihr euch nicht authentisch verhaltet. Nehmt euch Zeit, die euch anvertrauten Kinder kennen zu lernen; ihre Träume, Wünsche, Vorlieben, Ängste. Ihr werdet sehen, dass man als Lehrer_in seine Kinder mit all ihren Eigenheiten schnell ins Herz schließen kann. Wenn ihr ihnen zuhört und euch für sie interessiert, werden sie sich für euch und euer Fach interessieren. Das passiert nicht von Heute auf Morgen - also legt die Erwartungshaltung ab, dass das Ganze schnell geht. Der Aufbau einer Beziehung braucht Zeit und Geduld. Verwechselt aber nicht Beziehung mit Freundschaft. Ihr sollt nicht der beste Freund der Kinder werden, denn auf dieser Ebene verliert ihr zu viel Respekt. Schüler_innen verachten meist Erwachsene, die sich ihnen anbiedern und nutzen den Drang des Lehrers, geliebt werden zu wollen, aus. So soll es nicht sein.

Ebenso wichtig ist es, dass ihr wirklich für euer Fach brennt. Wenn ihr liebt, was ihr tut und die Kinder mitreißen könnt, werden sie das Fach ebenso lieben, auch, wenn es eigentlich gar nicht zu ihren Interessensgebieten zählte. Ich selbst zum Beispiel habe in der 10. Klasse eine fantastische Englischlehrerin bekommen. Bis dahin fand ich das Fach super langweilig und stand zwischen 3 und 4. Nach einem Schuljahr hatte ich mich auf die Note 1 verbessert. Englisch wurde mein Hauptfach im Abitur, ich bin danach als Au Pair nach London gegangen und bin dann selbst Englischlehrerin geworden - alles wegen dieser einen mitreißenden Frau! Ich kann das an meine Schüler_innen weitergeben. In meinem Unterricht kommt niemand auf die Idee zu stören, einfach, weil ich selbst mit vollem Spaß und Einsatz dabei bin. Das ist das Geheimnis guter Lehrer_innen.

Zu guter Letzt gibt es natürlich noch kleine methodische Kniffe, die Unterrichtsstörungen vermeiden. Der Unterricht muss immer "im Fluss" sein - es darf bei den Schüler_innen keinen Leerlauf geben. Sind sie nicht sinnvoll beschäftigt, fangen sie an, sich selbst zu beschäftigen. Das wird dann meist laut. Wichtig ist also, den Unterricht so zu planen, dass es keine großen Unterbrechungen gibt. Das Tafelbild sollte schon vorbereitet sein, damit ihr nicht minutenlang mit dem Rücken zur Klasse anschreiben müsst. Alle Arbeitsblätter sollten griffbreit auf eurem Tisch liegen und bereits gelocht sein. Müssen die Schüler_innen selbst lochen, entsteht Unruhe. Dann muss der Sitznachbar gefragt werden, ob er einen Locher hat oder die Schüler_innen entscheiden, dass das Blatt auch ohne Löcher einfach in den Hefter gelegt werden kann (wo es dann natürlich abhanden kommt).
 
Es bedarf keinem ausgeklügelten Methoden-Feuerwerk - oft ist weniger sogar mehr. Die Methode muss sich immer dem Inhalt unterordnen, nicht anders herum. Auch eine Stunde, die größtenteils aus Frontalunterricht besteht, kann eine gute Stunde sein, wenn der Inhalt am besten frontal vermittelt werden sollte.

Beachtet ihr diese drei Punkte, dann werdet ihr keine Tokensysteme in eurem Unterricht brauchen, das verspreche ich euch. Das Problem ist, dass diese Art des Lehrer-Seins anstrengend ist, zumindest, bis man eine echte Beziehung zu seinen Schüler_innen aufgebaut hat. Dann bleibt nur noch die akribische Vorbereitung der Stunden, die aufwendig ist. Doch auch in diesem Punkt ist die Zeit euer Freund. Nach einigen Jahren beherrscht man alle Inhalte und Handgriffe im Schlaf und die Arbeit ist einfach nur bereichernd.
 

Zusammenfassung: Worauf muss bei der Nutzung von Token-Systemen geachtet werden?


Möchtet ihr nach Abwägung aller Pro und Kontras nun in eurer Familie, Kindergartengruppe oder Schulklasse ein Tokensystem einführen, dann solltet ihr folgende Punkte zwingend beachten:

  • Ein Kind muss grundsätzlich in der Lage sein, das erwünschte Verhalten zumindest ansatzweise zeigen zu können.
  • Nur wenn ein Kind aktiv dazu bereit ist, sich durch Belohnung beeinflussen zu lassen, kann es durch ein Token-System dazu gebracht werden, sein Verhalten zu ändern.
  • Token-Systeme sollten nur für Verhalten angewendet werden, das keinen problematischen Grund hat.
  • Es sollte immer nur eine"Baustelle" mithilfe eines Verstärkerplans angegangen werden. Zu viele Ziele/Veränderungen sind für ein Kind nicht realisierbar. Es wird dadurch demotiviert werden.
  • Sowohl Token als auch Zeitraum und Belohnung müssen individuell auf das Kind abgestimmt sein. Am besten ist es, mit ihm gemeinsam alle drei Punkte zu besprechen und festzulegen. Zu lange Zeiträume (z. B. eine Unterrichtsstunde lang leise sein) schaden dem System - dieses Ziel ist schlicht unmöglich zu erreichen.
  • Der primäre Verstärker, gegen den die Token am Ende eingetauscht werden (z. B. ein Zoobesuch), darf dem Kind während des Zeitraums, in dem das Tokensystem angewendet wird, nicht auf anderem Wege "zugänglich" sein. (Zoobesuch nur als Belohnung für gutes Verhalten, nicht aber einfach so als Wochenendausflug mit der Familie)
  • Eltern, Lehrer_Innen und Erzieher_Innen müssen das gewünschte Verhalten, für das es ein Token gibt, sehr genau beschreiben. ("Ich lasse mir abends 5 Minuten lang die Zähne von Mama oder Papa putzen.") Zu vage Zielsetzungen ("Ich bin lieb zu meiner Schwester.") geben keine Verhaltenssicherheit und lassen zu viel Spielraum in der Interpretation. Somit bekommt der Erwachsene zu viel Macht bei der Auswertung des Verhaltens: Beispiel: Das Kind hat sich den ganzen Tag angestrengt und mit seiner Schwester gespielt. Am Abend kommt es zwischen beiden zum Streit und es haut die Schwester. Der Erwachsene ist darüber so sauer, dass das Kind deshalb keinen Token für den Tag erhält.
  • Eltern, Lehrer_Innen und Erzieher_Innen sollten das gewünschte Verhalten, für das es ein Token gibt, positiv beschreiben. ("Ich räume vor dem Schlafengehen alle Spielzeuge auf, die auf dem Boden liegen" statt "Ich bin nicht mehr so unordentlich").
  • Der Token-Sammel-Zeitraum muss dem Alter angepasst kurz und für das Kind schaffbar sein. (z. B. 5 Sternchen für eine Süßigkeit, 10 Sternchen für einen Zoobesuch)
  • Eltern, Lehrer_Innen und Erzieher_Innen sollten das Kind vor der jeweiligen Situation freundlich an das gewünschte Verhalten erinnern ("Denk dran, gleich fängt die Aufräumzeit an. Da kannst du dir einen Stern für deinen Plan erarbeiten.").
  • Ein Token muss sofort vergeben werden, sobald das Kind das gewünschte Verhalten gezeigt hat, sonst verpufft die Wirkung.
  • Wurde das erwünsche Verhalten vom Kind dauerhaft angenommen, müssen die Belohnungen dafür ausschleichen. Es ist nicht Sinn und Zweck der Sache, ein Kind für immer und ewig für banale Tätigkeiten zu "bezahlen".

© Snowqueen

 

Literatur


Kohn, Alfie: Punished by Rewards. The Trouble with Gold Stars, Incentive Plans, A's, Praise and Other Bribes, 1999

https://incom.org/projekt/1043

http://de.wikipedia.org/wiki/Token-System

http://schulpsychologie.lsr-noe.gv.at/downloads/wenn_lob_allein_nicht_reicht.pdf



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