Kinder wollen kooperieren. Dieser Satz, so nonchalant von Familientherapeut Jesper Juul in fast jedem seiner Interviews dahingeworfen, bringt uns Eltern nicht selten an den Rand der Verzweiflung. Denn ausgerechnet unsere Kinder scheinen eben nicht kooperieren zu wollen, ja, sie scheinen es sich sogar in den Kopf gesetzt haben, genau das Gegenteil vom dem zu tun, was wir uns wünschen. Da werden Teller vom Tisch gefegt, Spielzeuge gefährlich in der Wohnung umhergeworfen, im dichten Straßenverkehr weggelaufen und sich morgens partout nicht allein angezogen.
Es gibt, wie ich oben schon schrieb, Kinder mit ausgeprägtem Jagdinstinkt, bei denen der Impuls, loszurennen, jegliche antrainierte Verhaltensweisen überschreibt. Selbst, wenn sie ausgiebiges Verkehrstraining hatten, kann es sein, dass diese Kinder nicht anhalten, wenn eine Straße kommt oder sie viel zu weit weg von den Eltern sind. Auch bei Zwillingen gibt es manchmal das Problem, dass Eltern, die allein mit den beiden unterwegs sind, mächtig ins Schwitzen kommen, weil der eine hierhin und der andere dorthin strebt. Wem sollen sie folgen? Und warum rennen die nicht mal in eine Richtung?!
Wenn wir uns diese Situation genauer angucken, dann kollidieren hier zwei Bedürfnisse miteinander: Das Bedürfnis des Jungen, zu laufen, und das Bedürfnis der Mutter, sich auszuruhen. Und so sehr ich die Mutter verstehen kann - ich denke, dass sie ihr Bedürfnis in diesem Moment zurückstecken muss. Problematisch das das Verhalten des Kindes nämlich ganz und gar nicht. Er ist eben ein Kind, das lieber läuft, als auf dem Spielplatz zu spielen. Problematisch ist nur das Umfeld, in dem er sich befindet: Der Spielplatz ohne Eingrenzung und die Straßen drum herum. Es muss sich also nicht das Kind ändern, sondern sein Umfeld! Wenn die Mutter mit ihrem Sohn in den Park geht, kann er so viel vorlaufen, wie er will, denn es kann ihm nichts passieren. Auch auf einem eingezäunten Spielplatz wäre das möglich, allerdings denke ich, dass es ihm dort schnell langweilig werden würde, da er nun einmal kein Spielplatzkind ist. Viel besser wären wilde, unbebaute Flächen mit vielen Steinen und Stöckern - ich denke, dass er dort genug zum Spielen finden würde und die Mutter sich vielleicht sogar mal kurz hinsetzen könnte.
Warum das so ist, haben wir im ersten Teil unserer Serie zur kindlichen Kooperation ausführlich erklärt. Im zweiten Teil gingen wir darauf ein, wie wir unsere Kinder ganz allgemein wieder zum kooperieren bringen können. Ergänzt wurde dieser Text mit Teil 3 der Serie, in der ich tagebuchartig verbloggte, wie viel ich und meine Kinder am Morgen kooperieren. In den folgenden Artikeln wollen wir alltägliche Situationen betrachten, die früher oder später in fast allen Familien zu Konflikten führen:
Wir haben einige Tipps und Tricks aufgeschrieben, die unseren Kindern die Kooperation im Alltag ein wenig zu erleichtern. Dazu beschreibe ich zunächst typische Probleme, gehe auf ihre möglichen Gründe ein und schlage ein paar praktische Lösungen vor, die euch helfen könnten.
Mein Kind rennt immer weg
Eine der gefährlichsten unkooperativen Verhaltensweisen ist das Weglaufen. In klassischen Ratgebern wird dazu meist geraten, konsequent zu sein und das Kind bei Regelverstoß an die Hand zu nehmen bzw. in den Buggy zu setzen. Wem man nicht vertrauen kann, der büßt eben mit Freiheitsentzug. Ich möchte diese Lösung nicht verurteilen, weil sie ultimativ ja das Kind schützt - und das ist natürlich das Wichtigste. Ich denke aber, dass es auch hier freundlichere Alternativen gibt, die das Zusammenleben in der Familie vielleicht nicht so zum Kampf machen. Denn selbstverständlich wehren sich die meisten Kinder dagegen, zwangsweise an der Hand laufen oder im Buggy sitzen zu müssen. Oft sehen sie gar nicht ein, dass sie etwas "falsch" gemacht haben. Doch schauen wir zunächst auf mögliche Gründe, warum ein Kind wegläuft.
Gründe für das Verhalten
Viele Kinder sehen das Weglaufen als Spiel an. Man sieht sie dann kichernd vor den besorgten Erwachsenen fortlaufen, die warnenden Rufe nicht hörend. Sie sind im Spielmodus und sehen keine Gefahr. Andere Kinder haben einen sehr ausgeprägten Jagdinstinkt - vielleicht ein Überbleibsel unserer Vergangenheit als Jäger und Sammler. Wenn diese Kinder eine Katze sehen oder auch eine Taube, einen tollen Fußball etc., dann rennen sie ohne Rücksicht auf Verluste einfach los und jagen hinterher. Dabei sind sie so fokussiert, dass auch sie keine Rufe der Erwachsenen mehr hören. Sie sind kleine Raubtiere und sehen nur noch ihre Beute.
Hinzu kommt, dass die menschliche Ohrmuschel eher nach vorn gerichtet ist. Wir hören von vorn und von der Seite gut, nicht jedoch von hinten. Rufen die Erwachsenen also von hinten und aus einer relativ großen Entfernung, dann erreichen die Schallwellen kaum noch das Ohr - das Kind hört tatsächlich nur wenig. Ist es dann noch auf etwas anderes konzentriert, filtert das Gehirn dieses Geräusch als nebensächlich weg - und das Kind hört gar nichts mehr von unseren Rufen. Denn so ist unser Gehirn aufgebaut. Unsere Ohren nehmen tagtäglich sehr viel mehr Geräusche auf, als das Gehirn dann verarbeitet. Zu unserem Schutz filtert es in wichtig und unwichtig - dabei passieren eben leider auch Fehler. (Es gibt auch Kinder, deren Gehirn nicht richtig filtert, diese sind dann permanent überreizt, weil sie zu vielen Dingen Aufmerksamkeit geben müssen. Zu viele Reize erreichen sie.)
Als letzter Grund für ein Weglaufen von Kindern sei noch genannt, dass Erwachsene sich oft (unbewusst) nicht präzise genug ausdrücken. Oft sagen sie zum Beispiel: "Lauf nur so weit, wie ich dich noch sehen kann." Doch wie weit ist das denn genau? Wie soll das Kind einschätzen, wie weit ein Erwachsener sehen kann, zumal in einem Alter, in dem es kognitiv noch nicht eine Situation aus den Augen eines anderen betrachten kann? Für unsere Kinder sind wir in dem Alter, in dem sie normalerweise weglaufen, doch noch Superhelden, die ALLES können. Sie können einfach noch nicht einschätzen, dass wir sie durch die Hecke oder hinter den Autos nicht mehr sehen können! Damit ist das Weglaufen dorthin, wo die Eltern es nicht mehr sehen können, keine böse Absicht, sondern schlicht und einfach das Ergebnis der Annahme, dass wir Eltern unfehlbar sind. Sie denken, wir können kilometerweit und um die Ecke gucken - dass dem nicht so ist, ist unseren Kindern nicht bewusst.
Lösungen für das Verhalten
1. Fange spielen vermeiden
Meine Töchter sind mittlerweile 5 Jahre alt und ich spiele mit ihnen gerne Fange. Auf dem Spielplatz rase ich ihnen hinterher und bin das große Krümelmonster, dass die beiden kleinen leckeren Kekse da vor mir essen will. Dabei wird ausgiebig gekichert und ich komme mit meinen fast 40 Jahren ziemlich aus der Puste. Hallo Körper? Du warst doch mal echt sportlich? Tja nun... Wenn ihr uns so auf der Wiese beobachten könntet, würdet ihr euch vielleicht wundern, wenn ich euch erzähle, dass ich, bis die Mädchen 3 Jahre alt wurden, niemals, wirklich nie Fange gespielt habe. Ganz bewusst habe ich speziell dieses Spiel gemieden. Und auch bei meinem eineinhalbjährigen Sohn vermeide ich tunlichst, ihm hinterherzurennen.
Das liegt daran, dass ich nicht möchte, dass er dieses Spiel mir im Straßenverkehr spielt und vor mir wegrennt, wenn es gefährlich ist. Denn er kann noch nicht zwischen den Situationen "Fange spielen erlaubt", "Fange spielen gefährlich" unterscheiden. Für ihn ist der Ort egal, an dem er kichernd davontorkelt, um sich wieder einfangen zu lassen. Für ihn ist es ein Spiel, egal, ob er dabei auf die Straße rennt, oder auf dem sicheren Spielplatz. Es wäre eine Überforderung, von ihm zu verlangen, erst abzuwägen, ob das Fangespiel gerade situativ und ortstechnisch passend ist.
Ich renne ihm also niemals hinterher, und ich greife ihn auch nicht von hinten am Arm oder der Jacke. Wenn es vorkommt, dass er einen anderen Weg einschlägt, als ich, renne ich zwar manchmal schnell hinter ihm her, solange er sich nicht umsieht, schlendere aber sofort betont langsam, wenn ich in sein Blickfeld gerate. Ich überhole ihn dann mit großen Schritten, aber nicht hektisch, drehe mich zu ihm um und beuge mich herunter, um ihn von vorn zum Stoppen zu bewegen. So kommt bei ihm niemals das Gejagt-werden-Gefühl auf, das ja bekanntlich der Initialzünder für das spielerische Weglaufen ist. Ich jage ihm nicht hinterher - ich stelle mich ihm von vorn in dem Weg und habe dann auch gleich seinen Augenkontakt, um seine Aufmerksamkeit und sein Zuhören zu sichern.
Es mag euch schade vorkommen, das schöne Fange-Spielen zu unterlassen und ich kann das verstehen. Aber es ist ja nicht für immer verboten, sondern schlicht nach hinten verschoben. Ab etwa drei Jahren (das kann von Kind zu Kind variieren - entschiedet das für euer Kind selbst) sind unsere Kinder kognitiv in der Lage zu verstehen, dass Fange-Spielen auf dem Spielplatz prima ist, aber im Straßenverkehr nicht. Dann könnt ihr immer noch so viel hinter euren Kindern herrennen, wie eure Puste zulässt.
2. Verkehrstraining
In dem Moment, in dem eure Kinder Laufen lernen, sind sie bereit für Verkehrstraining. Das fängt zunächst sehr simpel an. Wenn ihr mit euren Einjährigen an eine Straße kommt, haltet ganz bewusst an, zeigt auf den Bordstein und sagt: "Stopp! Das ist eine Straße. Hier darfst du nur mit Mama oder Papa rüber". Dann nehmt ihr euer Kind an die Hand. Immer. (Es sei denn, natürlich, es sitzt im Buggy oder in der Trage.) Kommt ihr an eine Ampel, dann zeigt auf die Ampelfarbe und sagt: "Die Ampel ist rot. Wir müssen anhalten. Stopp!, sagt die Ampel." Ich mache dabei auch immer eine Stopp-Gebärde und singe die erste Strophe des Ampellieds. Wenn die Ampel auf Grün umspringt, sage ich betont erfreut: "Daaaa! Die Ampel ist grün! Nun können wir gehen. Nun halten die Autos an".
Der Sinn hinter diesem sehr frühen Verkehrstraining ist, dass unsere Kinder mit etwa 12 Monaten noch nicht in Frage stellen, was wir ihnen sagen. Die Autonomiephase hat noch nicht begonnen. Sie orientieren sich stark an uns, um die Welt überhaupt einmal zu begreifen und imitieren uns deshalb gern. Was wir sagen, wird von ihnen als unumstößliche Gegebenheit angenommen. Wird ihnen von uns in diesem Alter gezeigt, dass es wichtig ist, an Straßen zuverlässig anzuhalten, bei Rot nicht über die Straße zu gehen und auf die elterliche Hand zur Überquerung zu warten, dann prägt sich das so fest ein, dass es auch später, wenn sie ihre eigenen Wege gehen wollen, abgerufen wird. Sie werden auch mit 2 oder 3 Jahren an der Straße anhalten. Weil sie es immer schon so gemacht haben.
Zum Verkehrstraining gehört übrigens auch, euren (auch etwas älteren) Kindern nicht alle Entscheidungen abzunehmen. Ein Kind, dass immer nur mitläuft, fängt nämlich irgendwann an zu träumen. Es ist nicht mehr konzentriert auf die Gefahren der Straße. Das mag an eurer Seite nicht schlimm sein, denn ihr passt ja auf - aber wenn es das immer so macht, dann gewöhnt sich das Gehirn daran, dass es im Straßenverkehr in den Tagtraummodus gehen kann und das könnte bedeuten, dass das Kind, wenn es allein zur Schule unterwegs ist, auch träumt, statt aufzupassen. Ich sage nicht, dass ihr ständig und überall eure Kinder auf Gefahren aufmerksam machen sollt. Was ich meine ist, sie an kleineren Straßen entscheiden zu lassen, wann ihr alle hinübergehen könnt oder sie zu bitten, euch den Weg vom Kindergarten nach Hause oder von zuhause zum Spielplatz zu zeigen. Besprecht mit ihnen, in welcher U-Bahn ihr fahrt, an welcher Station ihr normalerweise aussteigt usw. Zeigt ihnen einfach, dass es wichtig ist, im Verkehr aufmerksam zu bleiben - dann fängt ihr Gehirn nicht an, in wichtigen Situationen zu träumen.
3. Klare Absprachen treffen - vorher
Wie ich oben bereits erklärte, denken unsere Kinder, dass wir Superhelden mit Superkräften sind. Ihnen ist einfach nicht klar, wie weit wir gucken können und wie weit "so, dass ich dich noch sehen kann" ist. Deshalb ist es wichtig, mit Kindern klare Absprachen zu treffen, und zwar bevor sie losrennen, denn sonst hören sie uns nicht mehr gut. Ihr könntet zum Beispiel sagen: "Du darfst bis zur nächsten Laterne laufen". Im Park eignen sich Kurven als Markierung: "Du kannst bis zur nächsten Kurve rennen. Dahinter sehe ich dich nicht mehr, also bleib stehen". Auf dem Spielplatz ist es sinnvoll, eine imaginäre Linie mit den Kindern abzulaufen: "Im Gebüsch kann ich dich nicht sehen - du darfst bis hier spielen, damit ich dich immer im Blick habe. Hier vor dem Gebüsch ist die Linie, ja?"
Oft werde ich von verzweifelten Zweifachmüttern angesprochen, wie sie das denn machen sollen, wenn ihr großes Kind mit dem Laufrad vorfahren will, sie aber mit dem Kleinkind oder Baby nicht schnell genug hinterher können. Die Großen würden dann anfangen, sich zu langweilen und dann doch schon weiter wegfahren (also weglaufen...). Die Antwort ist so einfach, dass sich die meisten Mütter dann an die Stirn klatschen, wenn ich sie ihnen vorschlage. Sagt zu eurem großen Kind: "Du darfst bis zum .... vorfahren. Wenn dir langweilig ist, weil wir zu langsam sind, dann fahr wieder zu mir zurück, ok? Du kannst immer hin und her fahren, bis ich mit dem Baby den Weg auch geschafft habe". Normalerweise ist das eine Lösung, die alle Beteiligten gut gefällt und deswegen problemlos klappt. Langeweile ist ein großer Risikofaktor fürs Weglaufen, deshalb werde ich weiter unten noch etwas ausführlicher darüber schreiben.
4. Im Notfall: Leinenrucksack
Für solche Notfälle würde ich einen Leinenrucksack nutzen. Ich weiß, dass diese umstritten sind und selbstverständlich sind unsere Kinder keine Hunde. Aber ganz ehrlich? Ich möchte lieber in der Lage sein, mein Kind an der Leine von der Straße zu reißen, als mit ansehen zu müssen, wie es unter ein Auto gerät, weil ich nicht schnell genug hinterher konnte.
Liebe imaginäre Leserin, die du jetzt gern einen bissigen Kommentar schreiben willst, wie schlimm Leinenrucksäcke für ein Kind sind: Ich finde es bewundernswert, dass du es bei deinen acht Kindern ohne geschafft hast. Und dass sie immer ganz brav im Straßenverkehr gehört haben. Und doch - lauf doch erst einmal selbst in den Schuhen von Zwillingseltern oder kleinen Jägern, bevor du dir ein Urteil erlaubst. Ein Leinenrucksack ist kein Foltermittel und auch nicht demütigend (also zumindest nicht, wenn das Kind nicht schon 5 Jahre alt ist), sondern eine zusätzliche Sicherheit, wenn Kinder sich rigoros weigern, an der Hand zu laufen oder sich in den Buggy setzen zu lassen. Punkt.
Liebe imaginäre Leserin, die du jetzt gern einen bissigen Kommentar schreiben willst, wie schlimm Leinenrucksäcke für ein Kind sind: Ich finde es bewundernswert, dass du es bei deinen acht Kindern ohne geschafft hast. Und dass sie immer ganz brav im Straßenverkehr gehört haben. Und doch - lauf doch erst einmal selbst in den Schuhen von Zwillingseltern oder kleinen Jägern, bevor du dir ein Urteil erlaubst. Ein Leinenrucksack ist kein Foltermittel und auch nicht demütigend (also zumindest nicht, wenn das Kind nicht schon 5 Jahre alt ist), sondern eine zusätzliche Sicherheit, wenn Kinder sich rigoros weigern, an der Hand zu laufen oder sich in den Buggy setzen zu lassen. Punkt.
Normalerweise nehmen die Kinder diese Rucksäcke nicht als Leine wahr. Für sie ist es ein lustiges Tier mit langem Schwanz, das sie da auf dem Rücken tragen. Anders als Mamas Hand oder der Buggy bewerten sie den Rucksack auch nicht als Einschränkung ihrer Freiheit, es sei denn, er wird zu oft genutzt. Die Eltern sollten wirklich nur an viel befahrenen Straßen den Leinenschwanz in die Hand nehmen und das Kind ansonsten frei mit Rucksack laufen lassen. Wichtig ist, auch trotz der Sicherung das Verkehrstraining mit den Kindern durchzuführen.
Wann nicht wegzulaufen zu viel verlangt ist
Ich bin von einer Mutter eines Zweijährigen gefragt worden, was sie machen solle. Ihr Sohn würde auf Spielplätzen immer nur kurz mit den Geräten spielen und dann einfach weglaufen, vom Spielplatz herunter. Sie würde sich gern einfach mal wie andere Eltern auf eine Bank setzen und ausruhen, während ihr Kind auf dem Spielplatz spielt. Aber das ginge bei ihrem Sohn gar nicht. Sie fragte mich, wie sie ihrem Sohn das Weglaufen abgewöhnen könne, denn das wäre ja ein wirklich problematisches Verhalten, weil er natürlich außerhalb des Spielplatzes auf eine Straße rennen könne.

Von diesem Läufer-Kind zu verlangen, auf einem Spielplatz nicht wegzurennen, ist eindeutig zu viel verlangt! Sein Bedürfnis spricht dagegen. Diesem wird er immer folgen. Bestehen wir als Eltern darauf, dass er auf dem Spielplatz zu bleiben hat und bringen ihm bei, dass er dort nicht wegzulaufen hat (indem wir mit ihm schimpfen, wenn er es tut z. B.) machen wir einen gravierenden Fehler. Denn dann suggerieren wir dem Kind, dass etwas an ihm nicht in Ordnung ist, dass er eigentlich in der Lage sein müsste, wie alle Kinder auf dem Spielplatz zu spielen. Wir prägen sein Selbstbild auf negative Weise. Denn eigentlich ist er ja vollkommen in Ordnung, so, wie er ist. Er ist halt ein anderer Spieltyp, als die anderen Kinder, aber das ist doch okay. Es müssen nur die äußeren Umstände stimmen, schon ist sein Spielverhalten nicht mehr problematisch, sondern toll. Er ist ein Entdecker und konzentriert sich dann am besten, wenn er durch den Park stiefelt und Steinchen sucht. Schafft es seine Mutter, auf sein Bedürfnis zu hören und die Spielbedingungen für ihn zu verändern, kann er mit einem anderen Selbstverständnis aufwachsen: Dass er gut so ist, wie er ist.
Es gibt noch eine zweite Situation, in der das Nicht-Weglaufen zu viel verlangt ist: Wenn Kinder warten sollen. Eine Freundin von mir war mit ihrer 4-Jährigen einmal im Hotel. Auf dem Hotelgang fiel ihr ein, dass sie etwas im Frühstücksraum vergessen hatte und sagte zu ihrem Kind: "Warte hier, ich bin gleich wieder da. Nicht weggehen!". Als sie nach etwa 10 Minuten wieder oben war, war ihre Tochter doch weg. Ihr könnt euch ihren gewaltigen Schreck vorstellen. Tausende Gedanken rasten in ihrem Kopf, sie hatte eine Höllenangst. Panisch rannte sie durch die Gänge, zu den Treppen und zum Fahrstuhl und rief immer wieder nach ihrer Tochter. Am Ende fand sie sie in der Lobby. Das Mädchen sagte: "Ich habe dich gesucht, Mama!" Was war geschehen? Warum hatte das Kind nicht einfach dort gewartet, wo ihre Mutter sie stehen gelassen hatte?
Zunächst einmal hatte die Tochter sehr wohl gewartet. Fünf Minuten hatte sie in etwa ausgehalten. Dann hatte sie die Angst gepackt in diesem Hotelflur und sie wollte ihre Mutter wieder sehen. Also lief sie ihr die Treppen hinunter entgegen, da sie wusste, dass die Mutter in den Frühstücksraum wollte. Damit verpasste sie ihre Mutter haarscharf, denn diese war mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren.
Das Problem an der Situation war, dass die Mutter das Mädchen "in den Leerlauf" geschickt hatte. "Leerlauf" sind Zeitabschnitte, in denen Kinder keine andere Handlungsanweisung haben, außer "warten". Warten kann ein Kind aber nur sehr kurz, denn es hat keine gute Zeitvorstellung - manche Minuten kommen ihm vor wie Stunden, manche Stunden wie Minuten. Soll ein Kind also ohne Beschäftigung warten, passieren zwei Dinge: Entweder, es bekommt Angst und will zu seinen Eltern (in unbekannten Umgebungen) oder ihm wird langweilig und es sucht sich eine Beschäftigung (in bekannten Umgebungen). In beiden Fällen läuft das Kind scheinbar weg - es verlässt den Ort des Wartens.
Möchtet ihr, dass euer Kind irgendwo kurz wartet, dann vermeidet "Leerlauf" und gebt klare Handlungsanweisungen, bevor ihr geht. "Ich bin 5 Minuten weg. Du kannst hier im Hotelflur hoch und runter laufen und zählen, wie viele Schritte du brauchst. Ich komme gleich wieder mit dem Fahrstuhl hoch". "Warte hier, ich hole kurz Brötchen und bin gleich wieder draußen. Das dauert zwei Minuten. Du kannst hier auf der Wiese so lange Blumen pflücken". "Ich muss nochmal was aus der Wohnung holen. In fünf Minuten bin ich wieder da. Willst du in der Zeit vom Treppenabsatz springen? Du kannst mir dann zeigen, wie hoch du dich traust". Ganz wichtig ist natürlich, dass die vorgeschlagene Beschäftigung genauso lange anhält, wie ihr weg seid. Ist die Beschäftigung zu langweilig, gerät das Kind wieder in den Leerlauf und könnte auf die Idee kommen, sich etwas anderes zu suchen.
Für die Junglehrer unter euch gilt dieser Punkt übrigens auch - sobald eure Schüler in den Leerlauf geraten, weil sie keine Aufgaben haben, werden sie unruhig und es kommt zu Unterrichtsstörungen. Ihr müsst daher darauf achten, dass eure Schüler immer genau wissen, was sie als nächstes tun können, auch, wenn sie mal warten müssen, weil ihr zum Beispiel etwas an die Tafel schreibt....
Ausblick
In den letzten Wochen haben wir im Rahmen unserer Kooperationsserie die Themen allein Anziehen, Essen herunter werfen und Treppen allein hochlaufen behandelt.
Wenn ihr daran interessiert seid, können wir noch über weitere Situationen schreiben, die euch persönlich beschäftigen. Schreibt und einfach einen Kommentar, womit wir euch helfen können oder auch gerne, welche Tricks bei euch in bestimmten Situationen gut geholfen haben.
© Snowqueen