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Dieter Schütz / pixelio.de |
Seit den Auftritten der "Super-Nanny" sind Auszeiten - bei ihr noch harmlos "stille Treppe" genannt - bei der Erziehung in aller Munde. Auch in vielen Erziehungsratgebern ist der Tipp zu finden: Kinder, die sich unangemessen verhalten, werden nach vorheriger Ermahnung durch eine gezielte Unterbechung des aktuellen Geschehens an einen anderen Ort verbracht, um ihr Verhalten zu reflektieren und sich zu beruhigen. Umfragen haben ergeben, dass 47% der Eltern Auszeiten als Erziehungsmethoden verwenden.
Vorab: Es spricht sicher nichts dagegen, wenn ein Kind sich aus eigenem Antrieb allein zurückzieht, um seine Emotionen zu verarbeiten und selbst entscheidet, wie lange es von den Eltern getrennt sein will - so lange dies selbstmotiviert geschieht. Die Erziehungsmethode "Auszeit", um die es in diesem Beitrag geht, ist maßgeblich davon gekennzeichnet, dass die Eltern das Kind aktiv aus einer Situation heraus nehmen und eine räumliche Trennung anordnen, die erst durch ein Signal seitens der Mutter oder des Vaters beendet wird. Man könnte also ganz deutlich sagen: erzwungene räumliche Isolation bzw. "Einzelhaft".
Warum nutzen Eltern die Auszeit als Erziehungsmethode?
Viele Eltern begründen die Nutzung von Auszeiten damit, dass sie ihren Kindern die Gegelegenheit geben wollten, sich selbst in sicherer Umgebung (dem Kinderzimmer) zu beruhigen. Auch das oft leider falsch verstandene "Aus-der-Situation-nehmen" wird als ein Beweggrund angeführt. Eine Mutter im Foum schreibt zum Beispiel: "Er hat sich so in seinen Trotzanfall hereingesteigert, dass ich ihn in sein Zimmer gebracht habe. Ich wollte ihn erstmal aus der Situation nehmen und ihm die Chance geben, sich zu beruhigen. Hinterher bin ich zu ihm reingegangen und nachdem er sich für sein Verhalten entschuldigt hat, habe ich auch mit ihm gekuschelt. Ich bin wirklich nicht nachtragend und er zeigte mir ja, dass er verstanden hat, dass ich so ein Verhalten nicht dulde."
Warum ich mit dieser Art von Erziehungsmethoden grundsätzliche Probleme habe, möchte ich mit diesem Artikel begründen.
Urängste können ausgelöst werden
Auch wenn Auszeiten für das Kind augenscheinlich keine körperlichen oder materiellen Folgen hat, so wird doch die elementare Angst vor dem Verlassen werden oder der Trennung der primären Bezugspersonen geschürt. Vor allem junge Kinder sind vollkommen abhängig von ihren Eltern - in einer Auszeit befinden sie sich in einer Lage, die sie zutiefst negativ bewegt. Sie fühlen sich im Stich gelassen.
Kinder haben von kleinauf einen starken Bindungsdrang - sie sind für ihr Überleben darauf angewiesen, sich fest an Personen zu binden, die sie nach allen Kräften schützen und unterstützen - von dieses Personen vorsätzlich und ohne die Möglichkeit zu folgen, verlassen zu werden, löst in kleinen Kindern massive Ängste aus (vgl. Brisch, 2010: 12). Deshalb reagieren Babys und junge Kleinkinder oft sehr stark darauf, wenn ihre Bindungsperson ihr Sichtfeld verlässt - sie fangen an zu weinen und geben nicht eher Ruhe, bis diese zurück kommt und sie auf den Arm nimmt. Auch das Fremdeln ist Teil dieser Verlassensängste. Dieses Verhalten ist ein Überlebensmechanismus, den auch das logische Wissen "Mama ist im Wohnzimmer" nicht außer Kraft setzt.
Kinder sind also genetisch programmiert, in den ersten Jahren nicht allein sein zu wollen - Verlassen zu werden löst Urängste in ihnen aus. Mit Auszeiten manipulieren demnach Eltern ihre Kinder, indem sie diese Prägung ausnutzen. Zwar fängt ein Kind im ersten Lebensjahr an zu begreifen, dass Mama und Papa auch da sind, wenn es sie nicht sieht, das bedeutet jedoch nicht, dass es insbesondere in emotional sehr bewegenden Situationen in der Lage ist, sich das so ins Gedächtnis zu rufen, dass eine Selbstberuhigung möglich ist.
Eher das Gegenteil ist der Fall. Während es beim Auslöser der elterlichen Auszeit vielleicht einfach nur wütend oder müde war und deshalb einen "Trotzanfall" bekam, kann es passieren, dass es sich - allein gelassen und ins Zimmer gesperrt - in einen fast panischen Zustand hineinsteigert. Das wiederum überfordert häufig noch die Eigenregulation des Gehirns. Auf der körperlichen Ebene kommt es zu einer Erregung des sympathischen Nervensystems, welches für Kampf und Flucht verantwortlich ist (vgl. Brisch, 2010: 36).
Da das Kind nicht flüchten kann (Tür ist zu), wird es zunächst wild um sich schlagen, Dinge umherwerfen und kaputt machen. Das ist der günstigere Fall, weil es so nämlich seinen Stress teilweise selbst abbauen kann. Im ungünstigeren Fall schafft es das Kind nicht, sich durch Kampf zu regulieren, dann schaltet das Gehirn ein besonderes Notfallprogramm ein, das sogenannte "Abschalten". Diese Kinder werden dann von jetzt auf gleich ruhig, weil das Gehirn die Wahrnehmung von Gefühlen wie Panik und Angst und Schmerzen abschaltet. Nach außen hin wirken sie ganz normal, meist spielen sie ruhig im Zimmer, wenn die Eltern nachgucken kommen und letztere freuen sich dann, dass die Erziehungsmethode funktioniert hat. Innerlich bleibt die große Erregung jedoch erhalten und zeigt sich bei vermehrter Anwendung dieser Erziehungsmaßnahme durch Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schlafstörungen. Der erlebte Stress verschwindet nicht einfach aus dem Körper, er drückt sich über Körpersymptome aus (vgl. ebd., 2010: 45).
Das Abschalten kann im Übrigen auch dazu führen, dass Kinder noch Jahre später - sogar noch im Erwachsenenalter - mit Symptomen wie Wut und Schmerz in Situationen reagieren können, die von außen betrachtet gar nicht schlimm waren. Aber ein kleines Detail triggert dann die damals abgeschnittenen Gefühle und der Mensch braust auf, ist wütend oder traurig oder beschämt und weiß gar nicht, wo diese großen Gefühle eigentlich herkommen. Insbesondere in Situationen mit den eigenen Kindern werden Eltern häufig getriggert und reagieren ungewöhnlich stark, wie ich schon einmal an anderer Stelle ausführlich beschrieb (vgl. ebd., 2010: 120).
Im Grunde kann man also, neben körperlicher Gewalt, einem Kind nichts Schlimmeres antun, als es vorsätzlich zu verlassen.
An Bedingungen geknüpfte elterliche Liebe
Neben dem Spielen mit den Verlassenängsten der Kinder signalisieren Eltern durch das Verhängen von Auszeiten: "Du hast etwas getan, das für mich nicht akzeptabel ist, deshalb kannst du für den Augenblick von mir keine Zuneigung erwarten. Benimmst du dich so, wie ich es für richtig erachte und gestehst du dein Fehlverhalten ein, bin ich bereit, dich wieder lieb zu haben und alles zu vergessen. Aber nur dann. So lange du wütest, will ich von dir nichts wissen".
Natürlich sind die Gedankengänge der Eltern hier etwas überzogen dargestellt, aber ich finde trotzdem, dass es es sich bei Auszeiten im Grunde um nichts anderes als einen gezielten Liebesentzug handelt, in der Absicht, Kinder gefügsam zu machen und dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihnen erwartet. Die vielzitierte bedingungslose elterliche Liebe wird durch das Verhängen von Auszeiten ad absurdum geführt. Die Mütter und Väter glauben ganz sicher, dass sie ihr Kind bedingungslos lieben - die Frage ist nur, kommt das bei dem Kind auch an?
Auszeiten führen in der Regel tatsächlich dazu, dass das Kind (vermeintlich) reuig ist und sein Verhalten (vorübergehend) anpasst - daher werden sie oft als wirksam empfohlen. Als ich schwanger war, gab mir meine mittlerweile verstorbene Oma einen guten Rat: "Sei skeptisch gegenüber Erziehungsmaßnahmen die "funktionieren", denn unsere Kinder sind keine Maschinen." Deshalb möchte ich an dieser Stelle kritisch hinterfragen - warum funktioniert die Auszeit denn? Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ein Kind im Alter von beispielsweise fünf Jahren im Zimmer sitzt und tatsächlich darüber nachdenkt, was an seinem Verhalten falsch war und warum. Ich denke nicht, dass durch Auszeit echte Einsichtigkeit generiert wird, ebensowenig wie Empathie, wenn das Kind z.B. in die Auszeit geschickt wurde, weil es ein anderes gehauen hat. Ich bezweifle, dass durch das Verhängen von Auszeit ein Kind dauerhaft davon abgehalten wird, unerwünschtes Verhalten zu zeigen. Im Höchstfall wird es nach Androhung einer erneuten Auszeit damit wieder aufhören, allerdings nicht, weil es sich daran erinnert, welche Einsichten es bei der letzten Auszeit gewonnen hatte, sondern aus der Angst heraus, wieder weggesperrt zu werden und die elterliche Liebe zeitweise zu verlieren. Und ist es das, was wir wollen - dass unsere Kinder aus reiner Angst gehorchen?
Diesbezüglich habe ich kürzlich einen Erfahrungsbericht einer mit Auszeiten erzogenen Frau gelesen (den ich hier mit freundlicher Genehmigung zitieren darf, danke, M.):
"Auszeiten geben war die bevorzugte Erziehungsmaßnahme meines Vaters. Meist durften wir, wenn die Länge der Strafe nicht vorher definiert war, wieder rauskommen, sobald wir unseren Fehler einsahen und uns entschuldigten. Für mich hieß das im Grunde nur, wie lange halte ich es aus, bis ich es nicht mehr ertragen kann und raus wollte, kuscheln wollte und spüren, dass alles wieder gut ist.
Also gab ich das von mir, was man von mir hören wollte: "Entschuldigung...., ich weiß...., es kommt nicht wieder vor...." Tatsächlich sagte ich das mit ehrlichen Emotionenen, die aber aus dem Wunsch heraus resultierten, dass Papa nicht mehr böse ist und nicht, weil ich plötzlich so an Einsicht gewonnen und 100 % von meinem Fehlverhalten überzeugt war. Noch heute weiß ich, dass ich als Kind diese "Strafe" als ungerecht empfand und mir eigentlich nie so richtig sicher war, was ich eigentlich Schlimmes getan hatte... Ich war so zwischen 4 und 9 als das stattfand. Bei meinem Vater habe ich mir immer Mühe gegeben, brav zu sein, da ich mir der Höchstrafe bewusst war - wobei ich mich ehrlich frage, wieso ich dann doch so oft im Zimmer war. "
Kinder, die mit Auszeiten diszipliniert werden, entwickeln in der Regel ein geringeres Selbstwertgefühl - was nicht erstaunlich ist, wenn die elterliche Macht dergestalt verstärkt eingesetzt wird. Kinder haben das grundlegende Bedürfnis geliebt und anerkannt zu werden - deshalb funktioniert diese Methode auch - weil sie die Angst schürt, eben diese Anerkennung und Liebe entzogen zu bekommen. So sehr wir uns sicher sind, dass wir unsere Kinder natürlich trotzdem lieben - so wenig können wir dieses Wissen bei ihnen voraussetzen (vgl. Kohn, 2010: 29). Kinder empfinden Auszeiten als Ablehnung und als Strafe - die vermeintliche elterliche Absicht, die Emotionen beruhigen zu wollen, können sie kognitiv nicht erfassen.
Am Ende einer Auszeit bleibt das Gefühl von Demütigung, Herabsetzung und Zurückweisung. Kein Kind möchte von seinen Eltern getrennt sein und sich ungeliebt fühlen - schon gar nicht in Situationen, in denen es emotional bewegt ist. Warum soll ein Kind auch alleine mit seinen Emotionen klar kommen müssen? Kleinere Kinder können ihre Gefühle noch nicht selbst regulieren - sie benötigen dafür die Unterstützung ihrer Bezugspersonen (vgl. Brisch, 2010: 38). Wenn es keine körperliche Nähe in einer Konfliktsituation zulässt, kann man dennoch für das Kind da sein - allein durch Anwesenheit. Es gibt sinnvolle Methoden, aufgewühlten Kindern beizustehen, sie zu beruhigen und die kritischen Situation emotional befriedigend für alle Beteiligten zu gestalten.
Mittlerweile distanziert sich sogar Frau Saalfrank von der Erziehungs-Methode der Auszeit - sie erklärt dazu u. a. hier:
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Karina Sturm / pixelio.de |
Am Ende einer Auszeit bleibt das Gefühl von Demütigung, Herabsetzung und Zurückweisung. Kein Kind möchte von seinen Eltern getrennt sein und sich ungeliebt fühlen - schon gar nicht in Situationen, in denen es emotional bewegt ist. Warum soll ein Kind auch alleine mit seinen Emotionen klar kommen müssen? Kleinere Kinder können ihre Gefühle noch nicht selbst regulieren - sie benötigen dafür die Unterstützung ihrer Bezugspersonen (vgl. Brisch, 2010: 38). Wenn es keine körperliche Nähe in einer Konfliktsituation zulässt, kann man dennoch für das Kind da sein - allein durch Anwesenheit. Es gibt sinnvolle Methoden, aufgewühlten Kindern beizustehen, sie zu beruhigen und die kritischen Situation emotional befriedigend für alle Beteiligten zu gestalten.
Mittlerweile distanziert sich sogar Frau Saalfrank von der Erziehungs-Methode der Auszeit - sie erklärt dazu u. a. hier:
"Das Kind wird nicht nur massiv in seiner Autonomie und Entwicklung eingeschränkt, sondern auch in seiner Persönlichkeit gekränkt", sagte die 41-jährige Pädagogin in der "Frankfurter Rundschau". Das Konzept für die Sendung sei aus England gekommen und habe diese Maßnahme enthalten. "Für mich hat sich diese Methode nach kurzer Zeit als destruktiv erwiesen", sagte Saalfrank."
Fazit
So beliebt sie auch ist - die Erziehungsmethode "Auszeit" gehört längst in die Mottenkiste. Sie funktioniert nur, weil Kinder vermeiden möchten, bestaft zu werden und immer den Drang haben, eine positive Beziehung zu ihren Bindungspersonen (Eltern) aufrechtzuerhalten (vgl. Brisch, 2010: 45). Sie würden alles dafür tun, um keinen Liebesentzug erleiden zu müssen. Doch ist es das, was wir uns für eine Beziehung zu unseren Kindern wünschen? Ich glaube kaum.
Einzig und allein als Mittel letzter Wahl, bevor man selbst explodiert und gar handgreiflich wird, halte ich es für verantwortungsvoller, die Kinder durch eine räumliche Trennung aus dem eigenen Wutradius zu entfernen. Dabei sollte sich im Notfall das Elternteil jedoch selbst zurück ziehen. Oft reichen nur wenige Minuten, um sich in den Griff zu bekommen. Dem Kind kurz zu sagen: "Ich gehe kurz raus und komme gleicht wieder" ist in solchen Situationen in jedem Falle angebrachter, als das Kind wegzusperren.
Literatur/Quellen
Gordon, Thomas: Die neue Familienkonferenz - Kinder erziehen ohne zu strafen, Heyne Verlag
Kohn, Alfi: Liebe und Eigenständigkeit - Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung, Arbor-Verlag
Kohn, Alfi: Liebe und Eigenständigkeit - Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung, Arbor-Verlag