"Entschuldige Dich gefälligst!"
Auf Spielplätzen, in Spielgruppen und in der Kita erlebt man häufig, wie kleine Kinder, die anderen weh getan haben, von Erwachsenen nachdrücklich aufgefordert werden, sich zu entschuldigen. Dieser Aufforderung kommen die Kinder in aller Regel recht schnell nach, weil sie gelernt haben, dass es keinen Sinn hat, sich zu sträuben, da sie erst dann wieder weiter spielen dürfen, wenn sie ich endlich entschuldigt haben. Sie lernen früh: Fordert ein Erwachsener eine Entschuldigung, wird er nicht eher Ruhe geben - ja vielleicht sogar Strafen verhängen - bis das Kind endlich tut, was verlangt wird. Diesbezüglich besteht offenbar absolut kein Verhandlungsspielraum.
Man kann in solchen Situationen oft beobachten, wie das Opfer der Handgreiflichkeit schüchtern da steht, weil es versteht, dass es jetzt so lange warten muss, bis der Entschuldigungsakt vollzogen ist. Dabei scheint es sich selten wirklich wohl zu fühlen und eigentlich viel lieber wieder spielen zu wollen. Der Täter ist - je nachdem, wie klar ihm sein Vergehen ist ebenfalls unangenehm berührt, manchmal scheint er sich auch gar keiner Schuld bewusst zu sein. Vor allem kleineren Kinder wirken zudem meist so, als täte es ihnen nicht mal wirklich leid. Dennoch tut der Übeltäter, was von ihm erwartet wird: er lächelt gequält und murmelt leise "Entschuldigung" während er dem anderen Kind die Hand reicht oder es kurz drückt. Nach dieser Zeremonie ziehen Täter und Opfer dann von dannen - um sich zehn Minuten später erneut in den Haaren zu liegen.
Warum Erwachsene so vehement Entschuldigungen einfordern
Sich zu entschuldigen ist für viele Erwachsene ein elementarer Bestandteil von "Höflichkeit". Höflich ist (nach allgemeiner Definition), wer seine Mitmenschen durch unangenehme Verhaltenweisen nicht stört. Da Babys als sabbernde, rülpsende, furzende und überaus laute und egozentrische Wesen zur Welt kommen, haben viele Eltern das Gefühl, dass sie ihren Kindern unbedingt schnellstmöglich gesellschaftsadäquates Verhalten beibringen müssten, weil dieser Zustand für ältere Kinder schnell inakzeptabel wird. Sie haben zudem grundsätzlich eine tiefe Sehnsucht danach, dass ihre Kinder zu glücklichen Menschen heranwachsen, die ein erfülltes Leben haben. Naturgemäß bewegen sich Menschen, die höflich, nett und zuvorkommend sind und auch sonst mit den gesellschaftlichen Regeln und Konventionen vertraut sind, sicherer durchs Leben und knüpfen und pflegen leichter soziale Kontakte, als diejenigen, die unhöflich, muffelig und an anderen desinteressiert sind.
Das Erfordernis, sich zu entschuldigen, ist ebenso tief in der gesellschaftlichen Erwartungshaltung verankert, wie "bitte" oder "danke" zu sagen, freundlich zu grüßen und andere aussprechen lassen. Wer diese eigentlich einfachen Konventionen nicht einhält, ist recht schnell als unfreundlich verschrien. Daher ist das elterliche Bedürfnis, dass ihre Kinder nicht zu den rempelnden, meckernden und unhöflichen Zeitgenossen werden, auf die sie im Alltag immer wieder treffen, gut nachvollziehbar. Schließlich fällt ein kindliches Versagen in den Höflichkeitsdisziplinen auch immer unmittelbar auf ihr eigenes erzieherisches Ansehen zurück. Gerade in Beug auf die Höflichkeit fühlt sich auch das Umfeld berufen, kräftig mitzuerziehen - "Na? Wie heißt das Zauberwort?" lässt Eltern erst erblassen, dann erröten. Niemand will das Gefühl haben, von anderen als Versager bei der Erziehung abgestempelt zu werden.
Wenn Eltern also ihre Kinder auffordern, sich zu entschuldigen, dann tun sie das aus gutem Motiv und weil sie denken, dass sie ihren Kindern "gutes Benehmen" beibringen müssen. Nach der zwanzigsten oder fünzigsten Aufforderung wird ein Kind auch durchaus begreifen, was genau von ihm erwartet wird. Die Entschuldigung, die das Kind dann hervorbringt, wird den gesellschaftlichen Ansprüchen genügen - sie hat jedoch einen gravierenden emotionalen Mangel: sie ist oft rein extrinsisch motiviert. Das Kind entschuldigt sich bis zu einem gewissen Alter nur deshalb, weil es weiß, dass ein anderer das so erwartet. Extrinsisch motivierte Entschuldigungen sind halbherzig und wirken lieblos, das Kind empfindet dabei keinerlei ehrliche Reue und sprudelt ein erwartetes Höflichkeitsprogramm ab.
Kinder dazu anzuhalten, sich zu entschuldigen, führt dazu, dass der eigentliche Sinn der Entschuldigung - das aufrichtige Zeigen von Bedauern mit dem Wunsch, dass der andere einem verzeihe - zu einer rein automatisierten Maßnahme verkommt, die nichts als eine leere Floskel ist. Wenn es dem Kind nämlich wirklich leid täte, hätte es sich ja ganz von sich aus, also intrinsisch motiviert, entschuldigt.
Ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist außerdem der vorverurteilende Charakter einer abverlangten Entschuldigung. Oft beurteilen wir eine Situation vorschnell, obwohl wir nur einen Teil beobachtet haben. Unser Bedürfnis, die Missetat des Kindes schnellstmöglich mit einer Entschuldigung wieder gut machen zu wollen, führt dazu, dass das Kind kaum eine Chance hat, sich zu erklären. Vielleicht hat Kathi Ben an den Haaren gezogen, bevor er sie geschubst hat? Nicht, dass das Bens Verhalten legitimieren würde - natürlich ist es falsch, andere zu schubsen. Wenn wir aber sofort nach einer Entschuldigung verlangen, fühlt Ben sich verurteilt und hat keine Chance, seine Sicht der Dinge darzulegen - denn aus seiner Sicht hätte er mindestens ebenso eine Entschuldigung verdient, wie Kathi. Außerdem nehmen wir durch unser (manchmal sehr) übereifriges Eingreifen den Kindern die Chance, ihre Angelegenheit vielleicht selbst zu regeln.
Um sich aufrichtig entschuldigen zu können, muss ein Kind erst bestimmte kognitive und emotionale Fähigkeiten emtwickeln. Um wirklich Empathiezu empfinden, ist es unabdingbar, den emotionalen Zustand eines anderen Menschen zuverlässig bestimmen zu können. Ein Kind muss also in der Lage sein, Körper- und Gesichtsausdrücke bei anderen zu erkennen, diese zu entschlüsseln und einem Gefühl zuzuordnen. Emotionale Zeichen wie Tränen für Traurigkeit oder zusammengezogene Augenbrauen für Wut helfen bei der Entschlüsselung. Unsere Kinder werden mit diesem Wissen nicht geboren – sie erlernen es erst nach und nach durch Beobachtung und Erklärungen.
Eine weitere Voraussetzung für eine ehrliche Entschuldigung ist außerdem, dass das Kind den Blickwinkel eines anderen Menschen einnehmen, also einenPerspektivenwechsel vornehmen kann. Das bedeutet, dass eskognitiv fähig sein muss, zu erkennen, dass alle Menschen über verschiedene Wissensstände verfügen. Das, was uns vollkommen selbstverständlich erscheint, ist es für Kinder jedoch noch lange nicht!Kinder betrachten sich ab der Geburt zunächst einmal als das Zentrum der Welt. Nach ihrer Vorstellung denken und fühlen alle anderen Menschen exakt wie sie selbst – ihnen kommt überhaupt nicht in den Sinn, dass dem nicht so sein könnte. So schließen sie etwa bis zum Anfang des dritten Lebensjahres aus der Tatsache, dass sie sich nach einer Auseinandersetzung selbst gut fühlen und ihnen nichts weh tut, dass das beim anderen auch so sein müsse. Ihnen kommt überhaupt nicht in den Sinn, dass es dem anderen nicht gut geht oder ihm etwas weh tun könnte.
Die verwirrte Ungläubigkeit, die bspw. Einjährige zeigen, wenn man eine Entschuldigung von ihnen einfordert, ist also keineswegs gespielt. Sie verstehen wirklich nicht, warum sie sich entschuldigen sollten.Erst im Alter von etwa 2 Jahren bekommen Kinder ein Grundgefühl dafür, dass andere Menschen eigene, von ihnen unabhängige Gedanken, Wünsche und Empfindungen haben. Und erst im Alter zwischen drei und fünf Jahren gelingt es Kindern zunehmend, die Sichtweise anderer Kinder einnehmen zu können.
Um zu realisieren, dass es etwas Falsches gemacht hat, muss das Kind außerdem in der Lage sein, sich in den anderen hineinzuversetzen und dessen Empfindungen nachzuvollziehen. Dafür muss es diese Gefühle jedoch schon einmal selbst erlebt haben. Ein Baby findet nur deshalb Gefallen daran, Mama an den Haaren zu ziehen oder Papa in den Arm zu beißen, weil es nicht weiß, dass dieses Verhalten unangenehme Schmerzen auslöst. Es sieht lediglich, dass auf seine Aktionen sehr impulsive und damit für das Kind damit sehr interessante und unterhaltsame Reaktionen folgen. Erst nach und nach lernen Kinder, die Reaktion "Au! Das tut weh!" damit zu verknüpfen, dass man dabei Schmerzen empfindet. Das gelingt ihnen deshalb, weil Mama und Papa oft ganz instinktiv "Au!" rufen und "Hast Du Dir weh getan?"fragen, wenn sich das Kind verletzt. Wer also nie ein Auto weg genommen bekam, wer noch nie aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde oder von einer Rutsche geschubst wurde, weiß gar nicht, wie sich das anfühlt. Kinder müssen erst recht mühevoll lernen, welche Reaktionen durch welches Verhalten ausgelöst werden können.
Erst mit etwa 4 Jahren ist ein Kind in der Lage, sich ausreichend in andere einzufühlen. An dieser Stelle wird vielleicht klar, warum es nicht zielführend ist, von einem Kind, das jünger ist, zu verlangen, dass es sich entschuldigt. Solange es die Perspektive des anderen noch nicht einnehmen kann und daher nicht versteht, dass es ihm Schaden zugefügt hat, bleibt eine erzwungene Entschuldigung immer nur eine hohle Phrase ohne echte Reue und damit ohne jeden Wert für den Geschädigten. Denn erst, wenn Kinder vestehen, dass das, was sie (möglicherweise auch unabsichtlich) getan haben, einem anderen unangenehme Gefühle bereitet, sind sie in der Lage, echtes Bedauern zu empfinden.
Doch selbst wenn sie dazu schon fähig sind, tun sie sich manchmal noch schwer damit. Wer ältere Kinder hat, der hat sicher schon erlebt, wie ein Kind erst längere Zeit nach einem Vorfall zerknirscht - aber dann offenkundig ernst gemeint - um Entschuldigung bat. Da Kinder noch sehr impulsiv sind und über wenig Selbstbeherrschung verfügen, benötigt es einige Zeit, bis sie die Situation verarbeitet haben. Der Vorgang ist ja auch außerordentlich komplex! Kinder müssen zunächst die Gefühle des anderen erkennen, sie einordnen, verstehen, dass sie dafür verantwortlich sind, möglicherweise herausfinden, welches Verhalten genau den Kummer des anderen verursachte, sich überlegen, wie sie zukünftig anders handeln könnten, die eigenen Emotionen bändigen, sich fragen, ob eine Entschuldigung angebracht wäre, wenn ja in welcher Form...
Wenn wir als Erwachsene jedoch immer prompt eine umgehende Entschuldigung einfordern, behindern wir diesen Erkenntnis. Wird das Ergebnis der Überlegungen schon von uns vorweggenommen, sieht das Kind möglicherweise irgendwann keine Notwendigkeit mehr, sich all diese Gedanken zu machen und die Gefühle des anderen wahrzunehmen und zu bewerten. Es speichert für sich ab, dass Konfliktsituationen einfach nach Schema F wieder gutgemacht werden können, indem man einfach mechanisch "Entschuldigung sagt" - frei nach dem Motto "Schwamm drüber" ist der Vorfall dann vergessen.Das wirkt sich natürlich negativ auf ihre Einfühlsamkeit aus, da so der Eindruck entstehen kann, dass es sogar vollkommen in Ordnung ist, anderen weh zu tun oder sie zu ärgern - so lange man am Ende das erwartete Ritual abspult, sei das schon in Ordnung und am Ende alles wieder gut.
Das heißt natürlich nicht, dass man vollkommen unbeteiligt daneben stehen soll, wenn das eigene Kind einem anderen weh tut! Es ist wichtigeinzugreifen, wenn die körperliche Unversehrtheit anderer gefährdet ist oder sie sich offenkundig unwohl fühlen. Ebenso wichtig ist es, das Geschehene zu thematisieren und deutlich zu machen, dass das Verhalten unangemessen ist. Durch das verbalisieren der Gefühle anderer lernen Kinder, diese zu sortieren und einzuordnen. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt: "Schau, das Kind ist wütend! Es tritt mit dem Fuß auf und schreit, weil es sich von Deinem Verhalten geärgert fühlt". Das ist wesentlich sinnvoller, als eine Entschuldigung zu verlangen. Wenn man dem Kind erklärt: "Schau, Leni weint! Sie scheint ganz unglücklich darüber zu sein, dass Du ihr die Puppe weggenommen hast. Es macht sie ganz traurig, dass sie nicht mehr damit spielen kann. Sie wünscht sich sicher sehr, sie wiederzubekommen. Leni, Du möchtest gerne, deine Puppe wieder, nicht wahr? Es tut mir leid, dass du so traurig bist" und dem Kind dann geduldig Zeit lässt, das zu verarbeiten, werden sie sich in aller Regel darauf besinnen, zumindest die Puppe zurück zu geben. Dabei verliert das eigene Kind auch nicht sein Gesicht und fühlt sich durch die aufgebrachte Forderung, sich sofort zu entschuldigen - möglicherweise sogar mit einem Entreißen der Puppe verbunden - nicht erniedrigt. Wir können getrost davon ausgehen, dass es ja keine bösen Absichten hegte, sondern es ihm entwicklungstechnisch bedingt an Einfühlungsvermögen mangelte.
Kinder haben von Natur aus den Wunsch, die Menschen in ihrer Umgebung zu imitieren. Da diese bisher überlebt haben, scheint es evolutionsbiologisch sinnvoll, ebenso zu handeln. Dabei unterstützen die Spiegelneurone - das sind kleine Nervenzellen, die auch als Resonanzsystem des Gehirns bezeichnet werden. Die Neuronen erzeugen beim Betrachten von Vorgängen das selbe Aktivitätenmuster, wie bei der Durchführung der selben. Durch können wir uns in andere einfühlen und ihre Gefühle tatsächlich nachfühlen. Doch sie sind auch maßgeblich daran beteiligt, dass Kinder die Verhaltensweisen ihrer Bezugspersonen nachahmen. Durch die Spiegelneuronen sind schon kleine Babys in der Lage, ein elterliches Lächeln zu erwidern oder ein Gähnen nachzuahmen.
Wenn wir Eltern das Entschuldigen vorleben, dann übernehmen es unsere Kinder ganz automatisch, weil ihre Spiegelneuronen aktiv werden, wenn sie uns beobachten. Sie speichern dann die Handlungen der Erwachsenen im Gehirn als gesellschaftlich gewollte und demnach korrekte Handlungssequenz ab. Ganz unbewusst übernehmen Kinder also die Handlungen ihrer Bindungspersonen und werden später von ihren Spiegelneuronen quasi dazu „gebracht“, ebenso sozial zu handeln. Sie sammeln so also unbewusst durch Beobachtung aufgenommenes Wissen.
Daher ist es wichtig, wenn wir uns regelmäßig bei unseren Kindern (aufrichtig) entschuldigen - Gelegenheiten dafür gibt es im Alltag immer wieder. Wir können uns auch in Konfliktsituationen stellvertretend für unser Kind entschuldigen - natürlich, ohne unser Kind dabei bloßzustellen ("Oh, das tut mir leid! Ich sehe dass du ganz traurig bist!").
In Bezug auf das Entschuldigen kann man es also frei nach Karl Valentin halten:
Wenn Eltern also ihre Kinder auffordern, sich zu entschuldigen, dann tun sie das aus gutem Motiv und weil sie denken, dass sie ihren Kindern "gutes Benehmen" beibringen müssen. Nach der zwanzigsten oder fünzigsten Aufforderung wird ein Kind auch durchaus begreifen, was genau von ihm erwartet wird. Die Entschuldigung, die das Kind dann hervorbringt, wird den gesellschaftlichen Ansprüchen genügen - sie hat jedoch einen gravierenden emotionalen Mangel: sie ist oft rein extrinsisch motiviert. Das Kind entschuldigt sich bis zu einem gewissen Alter nur deshalb, weil es weiß, dass ein anderer das so erwartet. Extrinsisch motivierte Entschuldigungen sind halbherzig und wirken lieblos, das Kind empfindet dabei keinerlei ehrliche Reue und sprudelt ein erwartetes Höflichkeitsprogramm ab.
Kinder dazu anzuhalten, sich zu entschuldigen, führt dazu, dass der eigentliche Sinn der Entschuldigung - das aufrichtige Zeigen von Bedauern mit dem Wunsch, dass der andere einem verzeihe - zu einer rein automatisierten Maßnahme verkommt, die nichts als eine leere Floskel ist. Wenn es dem Kind nämlich wirklich leid täte, hätte es sich ja ganz von sich aus, also intrinsisch motiviert, entschuldigt.
Ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist außerdem der vorverurteilende Charakter einer abverlangten Entschuldigung. Oft beurteilen wir eine Situation vorschnell, obwohl wir nur einen Teil beobachtet haben. Unser Bedürfnis, die Missetat des Kindes schnellstmöglich mit einer Entschuldigung wieder gut machen zu wollen, führt dazu, dass das Kind kaum eine Chance hat, sich zu erklären. Vielleicht hat Kathi Ben an den Haaren gezogen, bevor er sie geschubst hat? Nicht, dass das Bens Verhalten legitimieren würde - natürlich ist es falsch, andere zu schubsen. Wenn wir aber sofort nach einer Entschuldigung verlangen, fühlt Ben sich verurteilt und hat keine Chance, seine Sicht der Dinge darzulegen - denn aus seiner Sicht hätte er mindestens ebenso eine Entschuldigung verdient, wie Kathi. Außerdem nehmen wir durch unser (manchmal sehr) übereifriges Eingreifen den Kindern die Chance, ihre Angelegenheit vielleicht selbst zu regeln.
Warum kleine Kinder sich noch nicht aufrichtig entschuldigen können
Um sich aufrichtig entschuldigen zu können, muss ein Kind erst bestimmte kognitive und emotionale Fähigkeiten emtwickeln. Um wirklich Empathiezu empfinden, ist es unabdingbar, den emotionalen Zustand eines anderen Menschen zuverlässig bestimmen zu können. Ein Kind muss also in der Lage sein, Körper- und Gesichtsausdrücke bei anderen zu erkennen, diese zu entschlüsseln und einem Gefühl zuzuordnen. Emotionale Zeichen wie Tränen für Traurigkeit oder zusammengezogene Augenbrauen für Wut helfen bei der Entschlüsselung. Unsere Kinder werden mit diesem Wissen nicht geboren – sie erlernen es erst nach und nach durch Beobachtung und Erklärungen.
Eine weitere Voraussetzung für eine ehrliche Entschuldigung ist außerdem, dass das Kind den Blickwinkel eines anderen Menschen einnehmen, also einenPerspektivenwechsel vornehmen kann. Das bedeutet, dass eskognitiv fähig sein muss, zu erkennen, dass alle Menschen über verschiedene Wissensstände verfügen. Das, was uns vollkommen selbstverständlich erscheint, ist es für Kinder jedoch noch lange nicht!Kinder betrachten sich ab der Geburt zunächst einmal als das Zentrum der Welt. Nach ihrer Vorstellung denken und fühlen alle anderen Menschen exakt wie sie selbst – ihnen kommt überhaupt nicht in den Sinn, dass dem nicht so sein könnte. So schließen sie etwa bis zum Anfang des dritten Lebensjahres aus der Tatsache, dass sie sich nach einer Auseinandersetzung selbst gut fühlen und ihnen nichts weh tut, dass das beim anderen auch so sein müsse. Ihnen kommt überhaupt nicht in den Sinn, dass es dem anderen nicht gut geht oder ihm etwas weh tun könnte.

Um zu realisieren, dass es etwas Falsches gemacht hat, muss das Kind außerdem in der Lage sein, sich in den anderen hineinzuversetzen und dessen Empfindungen nachzuvollziehen. Dafür muss es diese Gefühle jedoch schon einmal selbst erlebt haben. Ein Baby findet nur deshalb Gefallen daran, Mama an den Haaren zu ziehen oder Papa in den Arm zu beißen, weil es nicht weiß, dass dieses Verhalten unangenehme Schmerzen auslöst. Es sieht lediglich, dass auf seine Aktionen sehr impulsive und damit für das Kind damit sehr interessante und unterhaltsame Reaktionen folgen. Erst nach und nach lernen Kinder, die Reaktion "Au! Das tut weh!" damit zu verknüpfen, dass man dabei Schmerzen empfindet. Das gelingt ihnen deshalb, weil Mama und Papa oft ganz instinktiv "Au!" rufen und "Hast Du Dir weh getan?"fragen, wenn sich das Kind verletzt. Wer also nie ein Auto weg genommen bekam, wer noch nie aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde oder von einer Rutsche geschubst wurde, weiß gar nicht, wie sich das anfühlt. Kinder müssen erst recht mühevoll lernen, welche Reaktionen durch welches Verhalten ausgelöst werden können.
Erst mit etwa 4 Jahren ist ein Kind in der Lage, sich ausreichend in andere einzufühlen. An dieser Stelle wird vielleicht klar, warum es nicht zielführend ist, von einem Kind, das jünger ist, zu verlangen, dass es sich entschuldigt. Solange es die Perspektive des anderen noch nicht einnehmen kann und daher nicht versteht, dass es ihm Schaden zugefügt hat, bleibt eine erzwungene Entschuldigung immer nur eine hohle Phrase ohne echte Reue und damit ohne jeden Wert für den Geschädigten. Denn erst, wenn Kinder vestehen, dass das, was sie (möglicherweise auch unabsichtlich) getan haben, einem anderen unangenehme Gefühle bereitet, sind sie in der Lage, echtes Bedauern zu empfinden.
Doch selbst wenn sie dazu schon fähig sind, tun sie sich manchmal noch schwer damit. Wer ältere Kinder hat, der hat sicher schon erlebt, wie ein Kind erst längere Zeit nach einem Vorfall zerknirscht - aber dann offenkundig ernst gemeint - um Entschuldigung bat. Da Kinder noch sehr impulsiv sind und über wenig Selbstbeherrschung verfügen, benötigt es einige Zeit, bis sie die Situation verarbeitet haben. Der Vorgang ist ja auch außerordentlich komplex! Kinder müssen zunächst die Gefühle des anderen erkennen, sie einordnen, verstehen, dass sie dafür verantwortlich sind, möglicherweise herausfinden, welches Verhalten genau den Kummer des anderen verursachte, sich überlegen, wie sie zukünftig anders handeln könnten, die eigenen Emotionen bändigen, sich fragen, ob eine Entschuldigung angebracht wäre, wenn ja in welcher Form...
Wenn wir als Erwachsene jedoch immer prompt eine umgehende Entschuldigung einfordern, behindern wir diesen Erkenntnis. Wird das Ergebnis der Überlegungen schon von uns vorweggenommen, sieht das Kind möglicherweise irgendwann keine Notwendigkeit mehr, sich all diese Gedanken zu machen und die Gefühle des anderen wahrzunehmen und zu bewerten. Es speichert für sich ab, dass Konfliktsituationen einfach nach Schema F wieder gutgemacht werden können, indem man einfach mechanisch "Entschuldigung sagt" - frei nach dem Motto "Schwamm drüber" ist der Vorfall dann vergessen.Das wirkt sich natürlich negativ auf ihre Einfühlsamkeit aus, da so der Eindruck entstehen kann, dass es sogar vollkommen in Ordnung ist, anderen weh zu tun oder sie zu ärgern - so lange man am Ende das erwartete Ritual abspult, sei das schon in Ordnung und am Ende alles wieder gut.
Das heißt natürlich nicht, dass man vollkommen unbeteiligt daneben stehen soll, wenn das eigene Kind einem anderen weh tut! Es ist wichtigeinzugreifen, wenn die körperliche Unversehrtheit anderer gefährdet ist oder sie sich offenkundig unwohl fühlen. Ebenso wichtig ist es, das Geschehene zu thematisieren und deutlich zu machen, dass das Verhalten unangemessen ist. Durch das verbalisieren der Gefühle anderer lernen Kinder, diese zu sortieren und einzuordnen. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt: "Schau, das Kind ist wütend! Es tritt mit dem Fuß auf und schreit, weil es sich von Deinem Verhalten geärgert fühlt". Das ist wesentlich sinnvoller, als eine Entschuldigung zu verlangen. Wenn man dem Kind erklärt: "Schau, Leni weint! Sie scheint ganz unglücklich darüber zu sein, dass Du ihr die Puppe weggenommen hast. Es macht sie ganz traurig, dass sie nicht mehr damit spielen kann. Sie wünscht sich sicher sehr, sie wiederzubekommen. Leni, Du möchtest gerne, deine Puppe wieder, nicht wahr? Es tut mir leid, dass du so traurig bist" und dem Kind dann geduldig Zeit lässt, das zu verarbeiten, werden sie sich in aller Regel darauf besinnen, zumindest die Puppe zurück zu geben. Dabei verliert das eigene Kind auch nicht sein Gesicht und fühlt sich durch die aufgebrachte Forderung, sich sofort zu entschuldigen - möglicherweise sogar mit einem Entreißen der Puppe verbunden - nicht erniedrigt. Wir können getrost davon ausgehen, dass es ja keine bösen Absichten hegte, sondern es ihm entwicklungstechnisch bedingt an Einfühlungsvermögen mangelte.
Entschuldigen "lernen" durch Vorleben
Kinder haben von Natur aus den Wunsch, die Menschen in ihrer Umgebung zu imitieren. Da diese bisher überlebt haben, scheint es evolutionsbiologisch sinnvoll, ebenso zu handeln. Dabei unterstützen die Spiegelneurone - das sind kleine Nervenzellen, die auch als Resonanzsystem des Gehirns bezeichnet werden. Die Neuronen erzeugen beim Betrachten von Vorgängen das selbe Aktivitätenmuster, wie bei der Durchführung der selben. Durch können wir uns in andere einfühlen und ihre Gefühle tatsächlich nachfühlen. Doch sie sind auch maßgeblich daran beteiligt, dass Kinder die Verhaltensweisen ihrer Bezugspersonen nachahmen. Durch die Spiegelneuronen sind schon kleine Babys in der Lage, ein elterliches Lächeln zu erwidern oder ein Gähnen nachzuahmen.
Wenn wir Eltern das Entschuldigen vorleben, dann übernehmen es unsere Kinder ganz automatisch, weil ihre Spiegelneuronen aktiv werden, wenn sie uns beobachten. Sie speichern dann die Handlungen der Erwachsenen im Gehirn als gesellschaftlich gewollte und demnach korrekte Handlungssequenz ab. Ganz unbewusst übernehmen Kinder also die Handlungen ihrer Bindungspersonen und werden später von ihren Spiegelneuronen quasi dazu „gebracht“, ebenso sozial zu handeln. Sie sammeln so also unbewusst durch Beobachtung aufgenommenes Wissen.
Daher ist es wichtig, wenn wir uns regelmäßig bei unseren Kindern (aufrichtig) entschuldigen - Gelegenheiten dafür gibt es im Alltag immer wieder. Wir können uns auch in Konfliktsituationen stellvertretend für unser Kind entschuldigen - natürlich, ohne unser Kind dabei bloßzustellen ("Oh, das tut mir leid! Ich sehe dass du ganz traurig bist!").
In Bezug auf das Entschuldigen kann man es also frei nach Karl Valentin halten:
"Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie machen uns sowieso alles nach".
© Danielle