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Bauchgefühl - Warum rein intuitive Erziehung nicht naturgegeben ist und ihre Grenzen hat

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Eva Kaliwoda / pixelio.de
In jüngster Zeit liest man immer wieder Appelle, sich bei der Erziehung auf die elterliche Intuition zu besinnen und die Finger von Ratgebern zu lassen - das vielfältige Angebot würde heutzutage ohnehin wegen der Widersprüchlichkeit nur verwirren.

In diesem relativ aktuellen Artikel beispielsweise heißt es:
 
"Eltern wird etwas Fantastisches von der Natur mitgegeben: die Fähigkeit, ihr Kind über alle Maßen zu lieben und zu bewundern - von Geburt an. Kein anderes ist toller, schöner, besser! Sie wissen instinktiv, dass ihr Kind perfekt ist, so wie es ist. Und doch beginnen sie zwangsläufig irgendwann zu schauen, wie sich denn andere Kinder entwickeln. Dann wird verglichen, auf Entwicklungskurven geguckt, es wird optimiert und therapiert: Erziehung wird heute oftmals nach einer Art Businessplan betrieben, unterstützt von jeder Menge Ratgeberliteratur. Schuld an dieser Entwicklung ist vor allem die Verunsicherung, mit der viele Mütter und Väter heute zu kämpfen haben. Die Folge: Nicht alle Eltern vertrauen auf ihre eigenen Erfahrungen, lieber wäre ihnen eine konkrete Gebrauchsanleitung für ihren Nachwuchs.
Doch Patentrezepte gibt es nicht. Jedes Kind, jede Mutter und jeder Vater sind einzigartig. Statt Anleitungen bekommen Eltern aber von Natur aus eine ganz besondere Verbindung zu ihrem Kind mitgegeben. Sie können intuitiv erspüren, welche Bedürfnisse ihr Kind hat. Sie müssen nur das Vertrauen in sich haben, diesen natürlichen Draht zu ihrem Nachwuchs auch in der Erziehung zu nutzen."
 
Mich irritieren solche Artikel immer etwas, da sie zunächst einmal den Eindruck erwecken, dass Eltern, die viel zum Thema Erziehung lesen, gänzlich ohne Bauchgefühl erziehen würden und ihre Erziehung allein auf Grundlage der Bücher erfolgt. Darüber hinaus habe ich persönlich eigentlich den Eindruck, dass die intuitive Erziehung doch sehr weit verbreitet ist. Bei dieser Umfrage von Eltern.de gaben zwei Drittel der Befragten auf die Frage "Vertrauen Sie in der Erziehung auf Ihre Intuition?" die Antwort "Ja". Das übrige Drittel antwortete immerhin mit "manchmal" und nur magere 3,6% gaben an, nicht auf ihre Intuition zu vertrauen.


olga meier-sander / pixelio.de
Auch in Foren und Krabbelgruppen ist man sich bezüglich der Frage, ob es besser ist, intuitiv zu erziehen oder sich etwas ausführlicher mit den wissenschaftlich theoretische Grundlagen zu beschäftigen, ziemlich  einig. Da gibt es viele Mütter, die sagen "Ich habe noch nie irgendeinen Ratgeber gelesen, ich tausche mich mit Bekannten und Verwandten aus und höre auf mein Gefühl, das sagt mir schon, was richtig ist und was nicht". Die meisten informieren sich nur grob über die Grundlagen (Ernährung, Entwicklung, Krankheiten) oder wenn sie in konkreten Situationen Rat brauchen (Trotzen, Schlechtesser). Nur wenige Mütter beschäftigen sich über die Grundlagen hinaus mit dem Thema Erziehung intensiver. Zwei vollkommen unwissenschaftliche und unrepräsentative Umfragen von mir in zwei Elternforen ergaben: Etwa 20-30% der Mütter befassen sich ausführlich mit dem Thema Erziehung und lesen dazu in der Fachliteratur. Zwischen 11 und 26% gaben an, noch nie einen Ratgeber zur Hand genommen zu haben und rein intuitiv zu handeln. Die übrigen etwa 53% haben schon mal in einen allgemein gehaltenen Ratgeber geschaut oder beim Auftreten von besonderen Problemstellungen zu einem Buch gegriffen, wenn das Bauchgefühl nicht mehr weiter half (Trotz, Essen, Schlafen).

Hätte man mich vor der Geburt meine Tochter gefragt, welche Meinung ich zu dem Thema vertrete, hätte ich aus tiefstem Herzen behauptet: "Das kriege ich super allein hin - absolut kein Problem. Mein Instinkt funktioniert sicher hervorragend - am wichtigsten ist es, auf das Bauchgefühl zu hören! Ich werde schon wissen, was richtig für mein Kind ist". Ich musste sehr lange auf meine erste Tochter warten, drei künstliche Befruchtungen waren nötig, bis ich sie endlich in die Arme schließen durfte. Vor der Geburt fühlte ich mich gut vorbereitet, die klassische Erstausstattung lag gut sortiert in den Schränken und auf meinem Tisch lag der Klassiker von GU "Unser Baby - Das erste Jahr" bereit, um gelegentlich nachzulesen, wie sich das Kind entwickelt, wie man Beikost einführt oder was man bei Babys erstem Schnupfen alles machen kann. Es konnte losgehen - ich war voller Vorfreude und hatte keinerlei Bedenken, dass etwas nicht klappen könnte - schließlich haben Milliarden Frauen vor mir Kinder bekommen und sie zumeist erfolgreich groß gezogen - mein Bauchgefühl würde mir schon sagen, was ich tun soll.

Im März 2009 war es dann so weit. Die Geburt war lang und schmerzhaft und danach war ich froh, als die Schwestern mein Kind nach dem Kennenlernen mit ins Babyzimmer nahmen, damit ich ein paar Stunden schlafen kann. Nach einer halben Stunde jedoch wurde mir mein Kind gebracht - mit dem etwas entnervten Hinweis: "Sie beruhigt sich gar nicht und schreit die ganze Zeit!" Hm - was tun? Die Schwestern sagten zu mir, ich solle sie anlegen, so oft sie danach verlange, das brächte die Milchbildung in Schwung. Ich ließ sie also stundenlang an meiner Brust nuckeln, wo sie sich auch vorübergehend beruhigte. Sobald sie kurz eingeschlummert war und ich sie in ihr Bettchen legen wollte, war sie sofort wieder wach - und brüllte aus Leibeskräften. Ich war ratlos. Die Schwestern meinten: Anlegen, anlegen, anlegen - das tat ich weiter - nur selbst das beruhigte mein Kind irgendwann nicht mehr. Etwas neidisch schielte ich auf die anderen Mütter, die ihre Neugeborenen in ihren Wägelchen friedlich schlummernd umher schoben  - nur mein Kind dachte überhaupt nicht dran, mal zu schlafen.

Auch die Säuglingspflege überforderte mich erst einmal vollkommen. So klein war das Baby, so zerbrechlich! Ich hatte vorher noch nie ein Baby im Arm gehabt und beobachtete staunend, wie die Schwestern mein Kind routiniert badeten, wickelten und anzogen - für mich selbst eine riesige Herausforderung, die mir den Angstschweiß auf die Stirn trieb und gefühlt Stunden dauerte! Das waren die ersten Moment, in denen ich zweifelte. An mir, an meinem Instinkt, an der Gerechtigkeit. Warum lief eigentlich nicht alles wie von selbst? Warum fühlte ich mich so unsicher, so voller Fragen und Zweifel? Im Grunde hatte ich erwartet, dass ich vom ersten Moment an genau instinktiv und intuitiv wissen würde, was mein Kind braucht und wie ich mich anstellen muss. Die Erkenntnis, dass dem nicht so ist, war für mich ein ziemlicher Schock.

Nach weiteren 20 Stunden Dauernuckeln waren meine Brustwarzen natürlich wund, ich am Ende meiner Kräfte, den Tränen nahe und hätte der Schwester auf ihren Hinweis: "Das Kind hat Hunger, legen sie es doch mal an" am liebsten die Blumenvase an den Kopf geschmissen. Mein Kind kann kein Hunger haben - es liegt seit einem Tag ununterbrochen an der Brust und saugt. Ich wurde gefragt, ob man es mal mit Zufüttern probieren solle und ich habe lange mit mir gerungen. So oft hatte ich gehört, dass man keinesfalls zufüttern solle - letzendlich entschied mich ich unter Tränen dafür. 

Schlagartig war Ruhe. Mein Kind ließ sich ablegen, drehte den Kopf zur Seite und schlief 5 Stunden. Das Spiel wiederholte sich am nächsten Tag - stundenlanges Genuckel und Geschrei, dann bekam sie Pre-Milch, trank gierig Mengen, die angeblich gar nicht in den Magen hätten passen können und war danach zufrieden. Kein Instinkt hatte mir gesagt, dass sie Hunger haben könnte - schließlich war sie ununterbrochen an der Brust!  - das Bauchgefühl hatte zum ersten Mal komplett versagt. Etwa 72 Stunden nach der Geburt kam der Milcheinschuss und mein Kind konnte sich satt trinken - die Stillbeziehung entwickelte sich danach vollkommen harmonisch, aber mein Glaube daran, dass die Natur es schon richten wird, war grundlegend erschüttert.

Zwei Wochen nach der Geburt begann meine Tochter, unzufrieden zu werden. Vor allem abends wand sie sich und schrie aus Leibeskräften und war durch absolut nichts zu beruhigen. Ich verzweifelte - egal, was ich ich tat, es hatte keinen Einfluss auf ihr Schreiverhalten. Ich dachte, die Milch reicht nicht, lieh mir überstürzt eine Milchpumpe, pumpte, legte an, fütterte, wiegte in den Armen, lief umher, tröstete, wippte auf dem Pezziball... Diese Situation kennen nicht wenige Eltern - ca. 20% aller Säuglinge leiden unter den sogenannten "Drei-Monats-Koliken", wobei "unspezifisches Schreien" es vielleicht besser beschreibt, da es sich nicht um eine Verdauungsstörung sondern um ein Problem mit der Selbstregulation handelt.

Etwa 4 Wochen lang lebten wir in einer Ausnahmesituation - überfordert, übermüdet, überlastet und voller Zweifel. Wie konnte es sein, dass sich unser Kind nicht beruhigen ließ? Am meisten zweifelte ich an meinem Bauchgefühl - wir konnte das nur so kolossal versagen? Von allen Seiten hörte man nur "Koliken", "normal" und "dauert eben 12 Wochen". In der sechsten Lebenswoche schenkte uns ein Freund das Buch von Dr. Harvey Karp "Das glücklichste Baby der Welt". Karp erklärt darin, dass Babys drei Monate zu früh auf die Welt kommen und in der Zeit zur Beruhigung eine mutterleibähnliche Umgebung benötigen. Er beschreibt eine Methode, die bei Babys einen Beruhigungs-Reflex auslöst, wenn sie nicht unter Schmerzen leiden (die Methode ist in diesem Artikel näher beschrieben). Ich las das Buch aufmerksam, befolgte die Beschreibung und mein ewig meckerndes Baby schlief innerhalb von Sekunden ein. Dass es kein Zufall war, bewiesen die nächsten Tag - wann immer sie knödelig wurde, "karpte" ich sie und sie schlief: öfter, länger, ruhiger, besser.

Ein Element der Methode ist das Pucken - niemals wäre ich instinktiv auf die Idee gekommen, ein Baby so fest einzupacken, dass es die Arme nicht mehr bewegen kann. Kein Bauchgefühl, keine Intuition hat mir das gesagt. Im Gegenteil - als sie das erste Mal gepuckt da lag, rebellierte mein Bauchgefühl massiv und von Omas Einschätzung dazu will ich mal gar nicht anfangen - die war ob der "Zwangsjacke" entsetzt! Apropos Oma... ihre Meinung war - was sollte man anderes annehmen - "Man darf sich doch nicht zum Sklaven machen und muss das Kind auch mal schreien lassen!" (Warum man das natürlich keinesfalls machen sollte, davon handelt dieser Artikel und wie Oma auf die Idee kommt, so etwas zu erzählen, dem geht dieser Artikel auf den Grund).

Die Karp-Methode beinhaltet u. a. ein "weißes Rauschen" - mein Sohn schlief die ersten 10 Monate nur mit einem Staubsaugergeräusch - mein Bauchgefühl hätte mir nie gesagt, dass Lärm beim Schlafen förderlich sein könne. Instinktiv hätte ich mein Baby sanft ausschweifend gewiegt - dass kurze, hochfrequente Bewegungen viel besser helfen - keine Intuition verriet mir das. Karps Methode veränderte unser Leben schlagartig - ebenso wie meine Einstellung zum Thema Bauchgefühl. Warum konnte ich mein Kind nicht "instinktiv" beruhigen? Warum musste ich die Methode aus einem Buch erlernen? Warum hatte mir mein Bauchgefühl nie gesagt, dass mein Kind einfach "nur" an Übermüdung und Überreizung litt? Ich hatte endlos Windeln gewechselt, gefüttert, abgelenkt - dabei war die Lösung in unserem Falle einfach nur Schlaf.
 
Schlaf! Der nächste Punkt. Mein Kind hasste schlafen. Eingeschlafen wurde niemals allein, aufgewacht regelmäßig. Ablegen lassen? Auf keinen Fall! Ich hatte wirklich das Gefühl, mein Kind sei irgendwie "kaputt" - alle anderen Kinder in der Krabbelgruppe schliefen natürlich länger, besser und überhaupt - bei denen war alles unkompliziert. Um so schlimmer war es für mich, dass mein Kind so gar nicht dem perfekten Baby entsprach - ich wollte so gerne auch ein pflegeleichtes Baby haben. Das friedlich in Omas Arm juchzt und sonst brav spielt und schläft. Offenbar machte ich also etwas falsch. Damals wusste ich nicht, dass diesbezüglich auch gerne mal über- oder untertrieben wird - damals glaubte ich den anderen ganz arglos - was dazu führte, dass ich nahezu depressiv wurde. Ich verstand es einfach nicht - ich gab mir die größte Mühe und hatte dennoch ein permanent unzufriedenes Kind.

Niemand hatte mir gesagt, dass die Realität ganz anders aussehen kann. In meiner Bekannt- und Verwandschaft gab es kaum Babys - und die wenigen, die es gab, entsprachen meinen eben genannten Vorstellungen - lieb, leise und gut schlafend. Und nicht ein Mensch erwähnte bisher auch nur irgendein Problem. Als ich der Versuchung widerstand meine vermeintliche Unfähigkeit durch Schweigen dazu zu verschleiern, erhielt ich reichlich guten Rat aus der Umgebung (wobei man sich eigentlich hätte fragen müssen, woher denn alle so gut Bescheid wissen, wenn sie die Probleme doch angeblich nie hatten). In meinem Kopf schwirrten Aussagen wie "trage nicht so viel, das verwöhnt sie" oder "lass sie nicht bei dir schlafen, du kriegst sie nie wieder aus dem Bett" oder "stillen scheint nicht zu reichen, sie ist so unzufrieden - fütter mal lieber zu, nicht dass sie Hunger leidet" oder "langsam muss sie doch mal lernen, alleine einzuschlafen, ich kenne da ein tolles Buch".

Ganz offenbar machte ich wirklich einfach etwas falsch - also begab ich mich auf Ursachenforschung und auf die Suche nach Lösungsansätzen. Durch den "Aha-Effekt" bei Karp inspiriert, begann ich mich durch die Ratgeberliteratur zu lesen - Largo "Babyjahre", "In Liebe wachsen" von Gonzales, "Kinder verstehen" von Renz-Polster. Nach und nach dämmerte mir, dass gar nicht mein Kind außergewöhnlich sei, sondern vielmehr meine Erwartungen. Ich verstand die Zusammenhänge, die grundlegende entwicklungspsychologischen Grundlagen und fragte mich, wie ich von so falschen Annahmen ausgehen konnte. Ich begriff, dass das Bauchgefühl, überhaupt nichts mit Instinkten oder Intuition  zu tun hat, sondern massiv von der Umwelt und meinen Eltern geprägt wurde.
 
In der Artikel-Reihe Die Erziehung unserer Großeltern und Eltern ist beschrieben, wie unsere Eltern erzogen wurden und wodurch sie beeinflusst waren. Diese Erziehung haben sie häufig auch bei uns umgesetzt - die meisten von uns wurden früh an Beikost herangeführt, schreien gelassen und töpfchentrainiert. Nicht wenige haben auch Klapse oder Schläge bekommen - das war ein vor nicht allzu langer Zeit durchaus akzeptiertes Erziehungsmittel. Je mehr ich darüber nachdachte, wie ich erzogen wurde, desto mehr bröckelte mein Glaube an eine naturgegebene mütterliche Intuition. Wie kann (fast) eine ganze Generation planvoll nach Zeit- und Essensplan füttern, Kinder vorsätzlich schreien lassen oder hier und da einen Klaps verteilen? Wo waren denn da bloß die Instinkte? Hätten nicht sofort rote Warnleuchten signalisieren müssen, dass das Verhalten falsch ist? Frage ich meine Mutter zu dem Thema, sagt sie relativ unbeteiligt, dass man es damals eben so gemacht habe, wie man es "für richtig halte" und wie es die Ärzte empfohlen haben. Noch heute geht sie davon aus, dass es vollkommen in Ordnung ist, ein Kind aus Erziehungszwecken weinen zu lassen - ihr "Bauchgefühl" sagt, dass das eine geeignete Methode ist - schließlich habe sie bei mir auch geholfen und schließlich sei aus mir ja auch was "geworden".

Thomas Tobaben / pixelio.de
Endgültig bewiesen, dass mein persönliches Bauchgefühl für meine Erziehung nicht allein ausreicht, hat die Trotzphase. Wie jeder andere war ich vollkommen überrascht von der Heftigkeit der Wutanfälle - und die Hilflosigkeit und das Unvermögen adäquat zu reagieren, haben mich verwirrt. "Instinktiv" habe ich mein Kind stehen gelassen und gesagt: "Bock doch, dann gehe ich ohne dich". Natürlich kam sie hinterher - unglücklich, verzweifelt, hilflos. Meine Mutter meinte: "Das ist genau richtig so" - was mich erst recht zum Nachdenken brachte. Ich schaute, was die Fachliteratur zum Thema Trotzen so hergab und fand "Das glücklichste Kleinkind der Welt" - von eben jenem Dr. Karp, dessen Methode uns die Babyzeit so enorm erleichterte. Ich verschlang das Buch und begann, die (hier näher beschriebenen) Methoden auszuprobieren. Es fühlte sich komisch bis befremdlich an - ach, ich kam mir sogar lächerlich vor! Mein Bauchgefühl sagte "So ein Quatsch" - aber die Wirkung war verblüffend bis umwerfend. Die Intensität und Häufigkeit der Wutausbrüche nahm rapide ab - und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es fühlte sich so komisch an - niemals im Leben wäre ich intuitiv auf die Idee gekommen, so zu handeln - aber nachdem ich die theoretischen Zusammenhänge begriffen hatte, verstand ich auch, warum es wirkt. Auch wenn es immer heißt, dass die Trotzphase normal ist (mein Bauchgefühl fand wütende, fassungslos kreischende Kinder irgendwie nicht "normal") - unsere war seitdem quasi vorbei. Natürlich gab es auch bei uns gelegentlich Dissenzen, Dispute und Tränen, aber extreme oder ausufernde Situationen wie das Bodenwälzen im Kassenbereich gab es nie. Ich bin sehr gespannt, ob die Methode auch bei meinem zweiten Kind hilft - er nähert sich unaufhaltbar dem kritischen Alter.
 
Ich habe mich seitdem intensiv mit dem Thema Bauchgefühl und Mutterinstinkt auseinandergesetzt und war überrascht, dass nicht wenige Wissenschaftler tatsächlich die Existenz eines naturgegebenen "Mutterinstinktes" bezweifeln. Der von mir sehr geschätzte Wissenschaftler und Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster geht davon aus, dass das, was wir für unser "Bauchgefühl" halten, auf "implizitem Lernen" beruht. Im Laufe unseres Lebens sammeln wir unterschiedliche Erfahrungen, haben vielfältigie Erlebnisse, werden durch Gelesenes und Gehörtes beeinflusst und speichern alle Einflüsse der Umwelt im Unterbewusstsein ab. Wer also Babys in seiner Umgebung schreien sah, hat abgespeichert, welche Methoden und Strategien erfolgreich waren, um die Kinder zu beruhigen - wenn wir nun das eigene Kind beruhigen wollen, wenden wir unterbewusst das als erfolgreich erlebte Verhalten anderer an - ohne uns bewusst zu sein, dass das Gefühl "Ich scheine intuitiv zu wissen, wie es geht!" eigentlich nur das Ergebnis unserer Erfahrungen ist.
 
Ich habe mich immer gewundert, warum beispielsweise der vermeintlich einfache Vorgang des Stillens so dermaßen problembehaftet ist. Die wenigsten Frauen würden sich vermutlich zutrauen, ohne jede Hilfe eines Fachkundigen ihr erstes Kind anzulegen. Man liest in Internetforen häufig von Ängsten und Unsicherheit, weil das Kind nicht "richtig" trinkt oder zu wenig zunimmt. Auch ich selbst hatte Probleme mit meinem extrem schlecht zunehmenden Sohn. Auch wenn man im Grunde weiß (und beim zweiten Kind sollte man das eigentlich), dass eigentlich so gut wie jede Frau stillen kann - unterbewusst schüren die Unkenrufe der Verwandschaft wie "Das Kind wird nicht satt!" oder "Wann kriegt es endlich was Ordentliches?" Ängste, denen man sich nur schwer entziehen kann (worauf die Annahmen basieren, darüber mehr in diesem Teil unserer Reihe "Die Erziehung unserer Großeltern"). Sollte man nicht meinen, dass - wenn es denn einen "Instinkt" gäbe - dieser wenigstens beim überlebenswichtigen Stillen (die Natur kennt die Alternative der Pulvermilch ja nicht) reibungslos funktioniert? Offenbar kann man stillen nicht instinktiv oder intuitiv - Herbert Renz-Polster berichtet in seinem Buch "Menschenskinder" beispielsweise von Experimenten mit Affen dazu. Isoliert aufgewachsene Gorillaweibchen, die niemals gesehen haben, wie eine andere Affenmutter ihr Kind betreut, waren dort nicht in der Lage, sich rein instinktiv angemessen um ihr Kind zu kümmern. Eine Affenmutter beispielsweise schaffte es nicht, das Kind zum Stillen anzulegen - sie hielt den Hinterkopf an die Brustwarze. Das Kind musste ihr weggenommen werden, weil es sonst verhungert wäre. Bei einer weiteren Schwangerschaft bekam dieses Weibchen von anderen Gorillas gezeigt, wie diese ihre Kinder stillten - danach war sie in der Lage, auch das eigene Kind zu säugen. Renz-Polster schließt daraus, dass es keine wirkliche mütterliche Intuition gibt - das, was wir mit unseren Kindern tun, ist das Ergebnis von gesammelten Beobachtungen und Erfahrungen - also tatsächlich Erlerntes, kein Instinkt. Das erklärt auch, warum ich meinem schreienden Säugling so hilflos gegenüber war - ich hatte nie im Leben bei anderen wirklich beobachtet, wie man ein Baby "richtig" tröstet.

Kunstzirkus / pixelio.de

Ich glaube durchaus, dass es eine gewisse mütterliche Intuition gibt - nichts ist verlässlicher, als das Gefühl einer Mutter "es stimme etwas nicht" mit ihrem Kind. Ich glaube auch, dass es einen Mutterinstinkt gibt, der uns über uns hinaus wachsen lässt, wenn es um den Schutz unserer Kinder geht - die Auslösung dieses Mutterinstinktes nach der Geburt ist auch hormonell nachweisbar. Ich glaube aber mittlerweile nicht mehr, dass es ein natürliches Bauchgefühl gibt. Denn dieses Bauchgefühl setzt sich offenbar maßgeblich aus unterbewussten Einflüssen und Erfahrungen zusammen, daher haben viele Mütter das Gefühl, automatisch zu wissen, was zu tun ist und halten es für einen naturgegebenen Instinkt. Doch das funktioniert leider nur einfach und problemlos, wenn man eine entsprechend liebevolle Kindheit hatte und viele positive Erfahrungen sammeln konnte. Doch wessen Erziehung nach den damals üblichen Umwelteinflüssen ("Schreien stärkt die Lungen") erfolgte und wer wenig Kontakt im Leben mit Babys oder Kleinkindern hat, dem fehlt dieser Wissenschatz. Daher ist ein pauschaler Appell an das Bauchgefühl nicht hilfreich - es verstärkt allenfalls bei den Müttern, die nicht über eine so für andere scheinbar selbstverständliche Fähigkeit verfügen,  das Gefühl, offenbar teilweise schlicht unfähig zu sein. Wenn der "Mutterinstink" tatsächlich ein naturgegebener Instinkt wäre, dann würden alle Frauen darüber verfügen.

Selbst wenn man umfangreiche und positive Erfahrungen in Bezug auf die Erziehung und Betreuung von Babys und Kleinkindern sammeln konnte und es einem leicht fällt, (vermeintlich) rein intuitiv zu erziehen, halte ich es für schwierig sich allein auf sein "Bauchgefühl" zu verlassen. Man sollte keinesfalls unterschätzen, wie sehr dieses auf unterschwelliger Beeinflussung durch die Umwelt beruht. Wie viele Mütter sind der Meinung, ihr Kind habe ein Schlafproblem, nur weil es mehrfach nachts aufwacht und die mütterliche Nähe sucht? Wie viele Mütter sorgen sich, weil das Kind vermeintlich schlecht isst? Wir alle unterliegen ständig externen Impulsen, die sich auf unsere Erwartungen an unser Kind auswirken und die unsere Erziehung (in der Regel unbewusst) beeinflussen. Leider sind sehr viele davon auch negativ - ohne dass wir es merken.

Ein kleiner Test dazu? Welcher dieser Aussagen würdest Du intuitiv sofort zustimmen:
 
Kinder, die nicht hören oder sich schlecht benehmen, wurden zu wenige Grenzen gesetzt.

Um Kindern Grenzen zu setzen sollte man logische Konsequenzen einsetzen.
 
 Bei der Erziehung ist vor allem Konsequenz wichtig - sobald Kinder merken, dass man den kleinen Finger haben kann, wollen sie die ganze Hand.

Bei der Erziehung ist es ist wichtig, dass Kinder die Autorität Erwachsener anerkennen.

Man muss nicht immer alles erklären, Kinder müssen auch einfach mal hören, nur weil es die Eltern sagen.

Eine Erziehung, bei der die Kinder gleichberechtigt sind, kann nicht funktionieren.

Loben steigert das Selbstbewusstsein des Kindes.
Teilen lernen sollte man aktiv fördern.

Belohnungen sind ein gutes Mittel, die Motivation von Kinder zu steigern.
 
Auszeiten eignen sich sehr gut, um erhitzte Gemüter abzukühlen.

Ich stimme - obwohl ich das aus meinem "Bauchgefühl" heraus früher teilweise durchaus getan habe - mittlerweile keiner dieser Aussagen mehr zu.

Über das Teilen und die Auszeiten haben wir bereits geschrieben - zu den übrigen Themen: demnächst mehr hier in diesem Blog :-).


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