Kinder wollen kooperieren. Dieser Satz, so nonchalant von Familientherapeut Jesper Juul in fast jedem seiner Interviews dahingeworfen, bringt uns Eltern nicht selten an den Rand der Verzweiflung. Denn ausgerechnet unsere Kinder scheinen eben nicht kooperieren zu wollen, ja, sie scheinen es sich sogar in den Kopf gesetzt haben, genau das Gegenteil vom dem zu tun, was wir uns wünschen. Da werden Teller vom Tisch gefegt, Spielzeuge gefährlich in der Wohnung umhergeworfen, im dichten Straßenverkehr weggelaufen und sich morgens partout nicht allein angezogen.
Warum das so ist, haben wir im ersten Teil unserer Serie zur kindlichen Kooperation ausführlich erklärt. Im zweiten Teil gingen wir darauf ein, wie wir unsere Kinder ganz allgemein wieder zum kooperieren bringen können. Ergänzt wurde dieser Text mit Teil 3 der Serie, in der ich tagebuchartig verbloggte, wie viel ich und meine Kinder am Morgen kooperieren. In den folgenden Artikeln wollen wir alltägliche Situationen betrachten, die früher oder später in fast allen Familien zu Konflikten führen:
Wir haben einige Tipps und Tricks aufgeschrieben, die unseren Kindern die Kooperation im Alltag ein wenig zu erleichtern. Dazu beschreibe ich zunächst typische Probleme, gehe auf ihre möglichen Gründe ein und schlage ein paar praktische Lösungen vor, die euch helfen könnten.
Mein Kind trödelt und bummelt
Es gibt Kinder - und gar nicht mal so wenige! - die können nicht gut damit umgehen, wenn eine Aktivität endet und eine neue beginnen soll. Diese Kinder ziehen sich zum Beispiel total ungern an, weil das bedeutet, dass sie aus ihrem schönen warmen Schlafanzug in kalte Tagessachen schlüpfen müssen. Sie gehen auch ungern aus dem Haus, weil sie sich dann von ihren Spielzeugen loseisen müssen, um Schuhe und Jacke anzuziehen. Sind sie erst einmal angezogen und draußen, ist alles prima und sie haben totalen Spaß, aber bis die Eltern sie erst einmal dort hin bugsiert haben, leisten sie meist inaktiven Widerstand. Sie brauchen für alles gefühlt ewig und machen die Erwachsenen mit ihrer scheinbaren Antriebslosigkeit und ihrem Bummeln kirre. Dabei sind sie gar nicht per se antriebslos - sie können, wenn sie erst einmal in der neuen Situation angekommen sind, wunderbar spielen, sind fröhlich, kreativ und anstrengungsbereit. Nur bei den Übergängen zwischen den Situationen stockt es massiv.
Gründe für das Verhalten
Um das gleich klar zu stellen: dieses Verhalten ist total normal und bis ins Grundschulalter hinein auch altersgerecht. Je jünger die Kinder sind, desto schwieriger fallen ihnen meist die Situationswechsel und um so mehr bummeln sie.
Das liegt daran, dass das Gehirn in jüngerem Alter noch nicht sehr flexibel auf spontane Wechsel reagieren kann. Im Kopf der Kinder spulen sich kleine Programme ab und wenn diese nicht Schritt für Schritt abgearbeitet werden, gerät das Gehirn in die Krise. Meine Tochter Fräulein Ordnung kann zum Beispiel wirklich schlecht damit umgehen, wenn sie die Treppe hinunterlaufen soll, bevor sie den Reißverschluss ihrer Jacke zugezogen hat. Es gehört für sie einfach fest zum Programm, dass sie sich noch oben vollständig anzieht, bevor wir losgehen. Wenn wir es morgens eilig haben und ich mir wünsche, dass sie einfach die Jacke überwirft und dann z. B. an einer roten Ampel schließt, damit wir ein wenig Zeit sparen, dann bringt sie das jedes mal völlig aus dem Konzept.
Das kann auch anders herum passieren - wenn das Kind z. B. denkt, dass ein bestimmtes Programm gestartet wurde, das dann aber gar nicht abläuft: Es kann zum Beispiel sein, dass ein Erwachsener zuhause einen wärmeren Pullover anzieht, weil ihm kalt ist. Das Kind sieht das und erwartet nun, dass sie gleich raus auf den Spielplatz gehen, weil Papa diesen Pullover immer dann anzieht, wenn es raus geht. Der Erwachsene hat aber gar nicht die Absicht, rauszugehen. Das Kind erwartet aber, dass er nun auch die Schuhe anzieht und dem Kind die Jacke reicht. Passiert das nicht, obwohl diese Schritte im kindlichen Kopf vorgegeben sind (das Programm "Auf den Spielplatz gehen" wurde gestartet), kann es sein, dass das Kind aus für den Vater heiterem Himmel einen Wutanfall bekommt, weil das Gehirn nicht flexibel auf den Programmwechsel (geht doch nicht auf den Spielplatz) reagieren kann. Das ist allerdings nur bei sehr kleinen Kindern der Fall, also etwa vom ersten bis zweiten Lebensjahr. Ältere Kinder müssten schon in der Lage sein, dieser Art von Missverständnis mit Ruhe zu begegnen.
Ein spontanes Reagieren auf Gegebenheiten ist eine kognitive Leistung, die erst nach und nach erlernt wird - das sollten wir Großen immer im Hinterkopf behalten.
Ein weiterer Grund, gerade bei etwas älteren Kindern (ab ca. 4 Jahren) ist ein Phänomen, das sich Schwellenangst nennt. Damit ist nicht die Phobie gemeint, über Türschwellen zu treten. Kinder, die Schwellenangst haben, verweigern oft erst einmal neue Dinge/Situationen/Aufgaben, selbst, wenn diese schön sind. Sie möchten "die Schwelle" zur neuen Aufgabe nicht überschreiten und schieben diese lange vor sich her bzw. suchen sich Taktiken, diese ganz vermeiden zu können - zum Beispiel indem sie Bummeln. Einige dieser Kinder schaffen es sogar, krank zu werden, also beispielsweise echtes Fieber zu bekommen! Oft sind das sehr korrekte Kinder mit einem hohen Grad an Perfektionismus, oder aber Kinder, die schon oft in ihrem kurzem Leben gescheitert sind. Auch Erwachsene leiden noch an Schwellenangst, bei ihnen wird es aber gern Prokrastination genannt (was nicht ganz korrekt ist, denn das Aufschieben ist ja das Ergebnis der Angst). Es erfordert ein großen Maß an Feinfühligkeit, Kindern über ihre Schwellenangst hinwegzuhelfen, aber es geht. Je mehr positive Erlebnisse sie dabei haben, desto einfacher wird es.
Lösungen für das Verhalten
1. Übergänge regelmäßig ankündigen
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Im Alltag kommt es sehr, sehr häufig zu Phasenwechseln. Nehmen wir zum Beispiel die Zeit, nachdem ihr euer Kind aus dem Kindergarten abgeholt habt. Der erste Phasenwechseln dabei ist schon mal das Abholen. Die Kinder spielen gerade so schön im Garten, ihr kommt an und wollt sie holen, sie ziehen einen Flunsch oder rennen sogar weg, weil sie noch nicht mitkommen wollen. Habt ihr es geschafft, geht es sicherlich noch auf den Spielplatz. Oft maulen die Kinder dort erst einmal ein Weilchen, bis sie ins Spiel gefunden haben - der zweite Phasenwechsel (zwischen Abholphase und Spielplatz). Wollt ihr dann nach einer Stunde endlich nach Hause, maulen die Kinder schon wieder - sie wollen noch weiter spielen und trödeln. Denn auch hier gibt es einen Phasenwechsel - der vom Spielplatz zur Nachhause-Geh-Situation. So geht das unendlich weiter, bis die Kinder endlich im Bett sind. Ihr seht, das Leben besteht aus einem Strom an Situationswechseln. Habt ihr ein Kind, das mit diesen schlecht umgehen kann, dann kann das schon sehr belastend für die gesamte Familie sein, vor allem, wenn alle anderen Mitglieder aus einem anderen Holz geschnitzt sind.
Eltern, die selbst sehr zackig unterwegs sind und tausend Sachen auf einmal schaffen, werden kirre mit einem so scheinbar phlegmatischen Kind. Diese Zuschreibung ist aber sehr unfair dem Kind gegenüber, denn es kann ja nichts dafür, dass sein Gehirn so aufgebaut ist, wie es aufgebaut ist. Es wäre schade, ihm ein verqueres Selbstbild einzureden. Denn hätte es Eltern, die ebenfalls gemütlicher unterwegs sind und Situationswechsel auch nicht so mögen, dann würde es die Rückmeldung bekommen, gut so zu sein, wie es ist.
Wie könnt ihr euren Kindern nun also helfen? Indem ihr die Phasenwechsel regelmäßig ankündigt und einen Ausblick auf Kommendes gebt. Ich bin sicher, das macht ihr schon - dieser Tipp ist nicht neu.
Bewährt hat sich die 5-3-1-Regelung. Man kündigt dabei dem Kind an: "In 5 Minuten gehen wir los zur Kita". "In drei Minuten gehen wir los zur Kita". "In einer Minute gehen wir los zur Kita". Das allein reicht bei "leichteren Fällen" schon, den Übergang zu erleichtern. Wichtig ist übrigens, tatsächlich die korrekte Zeit einzuhalten, also nicht "5 Minuten" anzukündigen und dann erst in 10 oder 15 Minuten loszugehen. Denn sonst bekommen unsere Kinder unterschwellig eine falsche Vorstellung von Zeit. Für Kleinkinder kann man auch die "Ein (zwei/drei) Mal noch und dann fertig"-Regel anwenden. Diese ist leichter zu verstehen, als die Minutenangabe. Also: "Drei Mal Rutschen noch, dann gehen wir los." Ihr kennt und nutzt das sicher schon.
Wichtig ist auch, den Phasenübergang verbal aufzuschlüsseln. Wenn ihr also sagt: "In 3 Minuten gehen wir los", dann müsstet ihr danach kurz sagen, was ihr von dem Kind dann erwartet: "Du sollst dann bitte deine Schuhe und Jacke anziehen". So weiß das Kind nicht nur, wann der Situationswechsel passieren wird, sondern auch, was es dann genau machen soll. Es ist immer wichtig, Erwartungshaltungen klar zu verbalisieren und nicht einfach anzunehmen, der andere wüsste schon, was man von ihm will. Das gilt für Kinder genauso wie für Partner und Kollegen.
2. Einen Wecker stellen
Es gibt Kinder, die brauchen ein akustisches Signal einer "zeitlichen Autorität", um in die Puschen zu kommen. Für diese eignen sich Zeitwächter-Uhren. Ein normaler Wecker reicht natürlich auch, den muss man dann aber immer wieder neu einstellen.
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Ich habe gute Erfahrungen mit dem ultra-teuren
Time-Timer gemacht (sowohl zuhause, als auch an der Schule), weil dort die Kinder gut ablesen können, wie weit die Zeit schon verflossen ist. Ich liebe den echt und wenn ihr das Geld zufällig übrig habt, dann kauft den! (Wenn nicht, kann man es auch mit einem
günstigeres Modell versuchen - nach den Bewertungen zu urteilen mit leichten Qualitätseinbußen).
Es gibt aber von Jako-O auch eine
Morgenmuffel-Uhr, bei der man verschiedene Uhrzeiten einstellen kann, so dass sie morgens die verschiedenen Phasen einläutet (Aufstehen, Frühstück, Losgehen). Das gleiche kann man auch beim Handy einstellen - meins hat eine Weile 7 Uhr, 7.15 Uhr, 7.30 Uhr und 8 Uhr geklingelt zum Aufstehen, Anziehen und Zähneputzen, Frühstücken und Losgehen.
Auch hilfreich, allerdings ohne Ton, sind einfache Sanduhren. Wir haben ein Set (gibt es
ganz groß und
eher klein), die verschiedene Zeiten angeben: 1 Minute, 3 Minuten, 5 Minuten und 10 Minuten. Meine Kinder mögen es gern, diese umzudrehen und der Zeit beim herunterrieseln zuzugucken. Allerdings fehlt das akustische Signal oft. Wenn man durch Spielen abgelenkt ist, dann kann es sein, dass man den Zeitpunkt verpasst, an dem die Sanduhr durchgelaufen ist.
Probiert es einfach aus - vielleicht hilft ja dieser Tipp bei euren Kindern.
3. Ein Fotobuch basteln
Dies ist der beste Tipp, den ich euch geben kann. Für immer wiederkehrende Rituale, z. B. die Zeit vor dem Schlafengehen, eignen sich selbst gebastelte Fotobücher am allerbesten. Ihr fotografiert euer Kind dabei in allen Situationen, die es jeden Abend durchläuft.
Bei uns waren das: Abendbrot, Hände und Mund waschen, spielen, ausziehen, duschen/baden, neue Windel, Zähne putzen, Schlafanzug anziehen, Schlafsack anziehen, ins Bett gehen, Buch vorgelesen bekommen, stillen, einschlafen. Zu jedem dieser Punkte gab es eine Seite mit entsprechendem Foto. So konnten sich meine Töchter schon sehr früh (ab etwa 11 Monaten) zeitlich orientieren, was als nächster Schritt kommen wird und das Abendritual verlief plötzlich viel stressfreier.
Zunächst guckten wir uns das selbstgebastelte Buch jeden Tag gemeinsam an, wie andere Bücher auch. Dann fing ich an, vor jedem Schritt, der gemacht werden sollte, das Buch zu "befragen". Was kommt als nächstes? Schauen wir mal nach? Ach ja, Zähne putzen! Beim Abendritual wurde das Buch als von Station zu Station mitgenommen und immer eine Seite umgeblättert. Weil es den Kindern eine Menge Verhaltenssicherheit gab, schon im Voraus zu wissen, was als nächstes von ihnen verlangt wird, hatten sie dieses Buch wirklich gern. Nach einiger Zeit fingen sie an, stolz anzukündigen, was auf der nächsten Seite zu sehen sein wird, d. h. die Abfolge der Schritte hatte sich so gut eingeprägt, dass sie das Buch eigentlich nicht mehr benötigt hätten. Es blieb trotzdem eine lange Zeit unser treuer Begleiter und schlummert nun als Erinnerung in ihrer Lebenskiste.
Auf die Idee mit dem Fotobuch bin ich übrigens gekommen, als ich bei Jako-O im Katalog kleine Schildchen entdeckte. Auf dem einen abgebildet war die Reihenfolge, in der ein Kind eine Toilette benutzen soll: Pipi machen, spülen, mit der Klobürste säubern, Toilettendeckel zumachen, Händewaschen. Auf dem anderen war zu sehen, was ein Kind tun soll, wenn es nach Hause kommt: Jacke ausziehen und aufhängen, Schuhe ausziehen und wegstellen, Hausschuhe anziehen. Um Abläufe zu ritualisieren und Situationswechsel zu erleichtern eignen sich diese beiden Schildchen gut. Allerdings glaube ich, dass sie nur bei etwa 1- bis höchstens 3-Jährigen Kindern wirklich funktionieren. Alle, die älter sind, verstehen die Bildchen zwar, werden sich aber vermutlich nicht so akribisch daran halten, wie die Kleinsten.
Für ältere bummelnde Kinder (ab 3), die gerne strukturelle Hilfen in Anspruch nehmen, könntet ihr Ritualpläne aufhängen.
Bitte nicht mit Verstärkerplänen verwechseln! Auf den Ritualplänen sind die einzelnen Schritte des Abendprogrammes (oder auch Morgen - egal, was) aufgemalt und das Kind kann jeden schon erreichten Schritt abkreuzen. Es erhält
keine Belohnung dafür, dass es die Punkte abarbeitet. Es geht wirklich nur darum, das Ritual für größere Kinder visuell aufzuschlüsseln und damit Verhaltenssicherheit und Hilfe für die Phasenübergänge bereit zu stellen: Was habe ich schon geschafft? Was liegt noch vor mir? Was ist der nächste Schritt? Dieser Tipp eignet sich nicht für alle Kinder (das Fotobuch schon), sondern wirklich nur für solche, die gern visuell alles im Überblick behalten. Ein bisschen wie Erwachsene, die gern Listen schreiben und dann ein befriedigendes Gefühl haben, wenn sie darauf etwas durchstreichen können.
4. Tschüss sagen
Vor allem sehr kleine Kinder können sich bei Situationswechseln nur schwer damit abfinden, bestimmte Dinge oder Personen zurückzulassen. Das hängt wieder mit den "Programmen" im Kopf zusammen, die eben für das Kind noch nicht vollständig abgearbeitet wurden. Deshalb ist dieses Phänomen eigentlich eher bei Kleinkindern (bis maximal 3,5 Jahre) zu finden. Neben dem "Zeit geben", das ich schon im zweiten Teil dieser Serie über die
Erhöhung der Kooperationsbereitschaft beschrieben habe, ist es in einer solchen Situation hilfreich, dem Gegenstand "Tschüss" zu sagen. "Tschüss, großes Müllauto, morgen sehen wir uns wieder!", "Tschüss, Kindergarten. Morgen kommen wir wieder!", "Tschüss, Dreirad! Du wartest hier im Fahrradraum auf uns". Mit diesem definitiven Abschluss endet auch das Programm im Kopf eindeutig und es fällt den Kindern leichter, zu gehen. Ich nehme an, unter anderem deshalb mögen Kleinkinder auch die
Bobo-Siebenschläfer-Geschichten so gern. Der Kleine schläft ja am Ende jeder Geschichte ein - wenn das kein eindeutig definiertes Ende ist, dann weiß ich auch nicht...
5. Etwas aus der Situation mitnehmen
Eng verwandt mit dem "Tschüss sagen" ist das Mitnehmen. Wenn es bei meinem kleinen Sohn nicht ausreicht, dem Spielzeugmüllauto im Hof "Tschüss" zu sagen, dann schlage ich meist vor, dass er die beiden Mülltonnen mitnehmen kann, damit er sich nicht endgültig trennen muss. Diesen Trick habe ich schon bei den Mädchen damals angewendet. Bei ihnen ging es morgens meist darum, dass sie nicht in den Kindergarten wollten, weil sie gerade so schön mit ihren Püppchen spielten. Also durften sie die Puppen mitnehmen und sie auf dem Weg im Arm halten. Im Kindergarten angekommen, waren dann aber immer andere Dinge wichtiger, so dass die Püppchen von mir problemlos wieder mitgenommen werden konnte (und selbst, wenn nicht, dann warteten sie in der Garderobe, auch kein Problem).
Meine Töchter sind nun 5 und sie nehmen morgens trotzdem oft gern noch etwas mit, wenn es in Richtung Kita geht. Ich meine nicht das Spielzeug, dass sie dort benutzen wollen, sondern alltägliche Sachen, wie einen Stift oder ein Stück Garn. Ich kann mich erinnern, dass ich das selbst als Kind auch gemacht habe. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie ich fertig angezogen an der Wohnungstür stehe und schnell noch eine Puppentasse in meine Jackentasche packe. Meine Mutter sagt: "Aber heute wolltest du doch nichts mitnehmen?" und ich antworte: "Oh, stimmt" und packe die Tasse wieder aus. Witzigerweise habe ich genau diese Tasse noch heute, in meiner Lebenskiste. Sie ist überhaupt nichts besonderes und damals hatte ich auch keinerlei emotionale Verbindung damit. Es war einfach nur ein Gegenstand aus meinem heimischen Umfeld, das mir über den Tag helfen sollte. Eine kleine Nabelschnur sozusagen.
6. Für Kinder mit Schwellenangst: Große Aufgaben kleinschrittig gestalten
In der Schule hilft man Kindern mit Schwellenangst, indem man ihnen ihre Aufgaben möglichst kleinschrittig darbietet. Ein ganzes Blatt mit Matheaufgaben würde von ihnen sofort von sich geschoben werden und niemals bearbeitet werden. Knickt man das Blatt aber so, dass nur die erste Aufgabe zu sehen ist und gibt man ein wenig Anschwung, indem man das Kind z. B. fragt: "Hier steht, du sollst 2+3 rechnen, weißt du, wie das geht?" (man überschreitet die Schwelle also gemeinsam mit dem Kind), dann fangen sie doch mit der Aufgabe an und schaffen diese normalerweise Stück für Stück problemlos.
Genauso kann man das im Alltag gestalten. Es nützt keinem, wenn ihr eurem Kind (selbst, wenn es schon 5 ist) morgens sagt: "Zieh dir den Schlafanzug aus und leg ihn aufs Bett, such deine neuen Sachen raus und zieh dich bitte an. Ich warte in der Küche auf dich". Das wird nie und nimmer klappen, wenn ihr ein Kind mit Schwellenangst habt und nur zu Frust auf beiden Seiten führen, weil das Kind lieber bummelt, weil die Aufgabe viel zu groß erscheint. Daher wird es nicht damit beginnen, sondern sich lieber hinsetzen und mit der Brio-Bahn spielen. Das Kind kann das alles zwar allein und vom Alter her könnte man als Eltern darauf pochen, dass es sie auch allein macht, aber es würde unglaublich viel Druck ausgeübt werden müssen, bis das Kind tatsächlich anfängt. Der Druck der Eltern (meckern, nörgeln, erinnern...) müsste nämlich zunächst den inneren Druck der Schwellenangst überschreiben. Das geht. Aber: Es macht das Miteinander sehr unfreundlich, bringt Stress und schlechte Laune bei allen Beteiligten und hilft auf lange Sicht gesehen nicht, die Schwellenangst zu besiegen.
Gliedert deshalb diese große Aufgabe (selbst, wenn sie euch klein erscheint), in kleine Schritte auf:
1. "Zieh deinen Schlafanzug aus",
2. "Leg deinen Schlafanzug aufs Bett",
3. "Such dir Sachen aus dem Schrank"
4. "Zieh dich an"(für sehr schwere Fälle könnte man auch das Anziehen nochmal unterteilen...),
5. "Komm zum Frühstück in die Küche".
Ihr seht, das ist nichts anderes, als das Blatt mit den Matheaufgaben günstig zu falten.
Nun kommt noch ein weiterer Schritt hinzu - der Hilfe zur Überschreitung der Schwelle. Bei jedem dieser 5 Schritte müsstet ihr am Anfang dabei sein. Nicht, um das Kind zu überwachen, sondern, um dem Kind notfalls den Rücken zu stärken. Ihr könnt zum Beispiel helfen, das Schlafanzugoberteil über den Kopf zu ziehen. Oder ihr drückt den Kindern den Schlafanzug in die Hand, damit sie ihn aufs Bett bringen können. Ihr geht mit dem Kind gemeinsam zum Schrank und öffnet diesen... Dann müsste eigentlich jeweils die Schwelle überschritten sein und euer Kind von selbst in die Gänge kommen. Dann wiederum ist es wichtig, euch aus dem Geschehen zurückzuziehen und es selbst machen zu lassen, sonst wird es mit der Zeit unselbständig, weil es sich darauf verlässt, dass Mama das schon macht. Es geht wirklich nur darum, die neuen Situationen für das Kind ins Rollen zu bringen, nicht, ihm die gesamte Arbeit abzunehmen.
Ich sehe
Michael Winterhoff bei diesen Zeilen förmlich mit den Augen rollen und mich eine Helikoptermutter in Symbiose mit meinen Kindern nennen, deshalb möchte ich noch erwähnen, dass es Kinder mit echter Schwellenangst eher selten gibt. An meiner Schule habe ich natürlich mehrere solcher Kinder, einfach, weil diese überdurchschnittlich oft im Leben scheitern, aber im "Leben da draußen" fällt mir eigentlich nur ein Junge einer anderen Blog-Mutter ein, der vermutlich daran leidet.
Es ist für diese Kinder kein Spaß, Schwellenangst zu haben, denn es blockiert ja eine Menge Lebensenergie und nimmt ihnen oft die Möglichkeit, neue Dinge auszuprobieren (und
Selbstbewusstsein zu entwickeln). Außerdem wird ihnen immer wieder vorgeworfen, zu langsam zu sein oder zu viel zu trödeln. Deshalb halte ich es für wichtig, sensibel mit der Problematik umzugehen. Am besten ist es, diese kleine Eigenheit einfach anzunehmen, nicht anzusprechen und als Teil des Kindes zu akzeptieren. Wenn euer Kind schlecht sieht, bekommt es automatisch eine Brille und keiner guckt schief deswegen. Ist euer Kind so perfektionistisch, dass es lieber gar nicht neue Aufgaben ausprobiert, dann sollte es selbstverständlich sein, dass ihm - wie mit der Brille - ein Hilfsmittel zur Verfügung gestellt wird! Denn je öfter ein Kind mit Schwellenangst
erfolgreich neue Aufgaben meistert, desto schneller verliert sich diese Blockade. Sie kann völlig verschwinden. Deshalb ist es eben auch so wichtig, ihm nicht die gesamte Aufgabe abzunehmen, sondern nur für den kurzen Moment des Phasenwechsels Hilfe anzubieten, denn erfolgreich bedeutet eigentlich "allein gemeistert". Je öfter ihr ohne großes Trara über die Schwelle helft, desto leichter wird es eurem Kind fallen, es ein anderes Mal ohne Druck allein zu versuchen.
Ausblick
Das waren situationsbezogene Tipps und Tricks für Eltern, deren Kinder Situationswechsel hassen. In den nächsten Wochen geht es um die Kooperation beim Medikamente nehmen und beim Windel wechseln und möglicherweise gibt es noch einen tagebuchartigen Text zu den Abenden in meiner Familie.
Wir sind dann am Ende der Kooperationsserie angekommen und hoffen, all eure offenen Fragen beantwortet zu haben.
© Snowqueen