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Liebe Sabrina Hoffmann - wir verweichlichen unsere Kinder nicht

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Ein kontrovers diskutierter Artikel


Gestern wurde auf Facebook mehrfach ein aktueller Artikel aus der Huffington Post geteilt: "Liebe Eltern: Hört auf, eure Kinder zu verweichlichten Menschen zu erziehen" und sehr kontrovers diskutiert. Etwas geschockt hat mich die doch sehr breite Zustimmung - bisher haben fast 40.000 Menschen dieses Artikel geliked - er wurde über 7.000 mal geteilt und ich kann mir gut vorstellen, wie die meisten Kommentare in den sozialen Netzwerken darunter aussehen.

Wahrscheinlich sollte der Artikel einfach nur locker, witzig und unterhaltend sein - leider trägt er jedoch mal wieder dazu bei, das Bild des vermeintlichen Vormarsches des "verwöhnten Kindes" in der öffentlichen Meinung zu festigen. Und er animiert Eltern dazu, lieber noch konsequenter und noch weniger liebevoll zu ihren Kindern zu sein, um nicht als belächelte Übermutti zu gelten. 

Worum geht es überhaupt?


Der Artikel beginnt mit der Beschreibung einer Szene, die die Autorin "ratlos" machte. Zwei Erzieherinnen kamen mit einer Gruppe von Kindern (2 bis 3 Jahre) vom Spielplatz. Eines der Kinder stand an der Kitatür und begann zu schreien. Die Erzieherinnen kümmerten sich umgehend:
"Sofort waren die Erzieherinnen bei dem Mädchen. Seine Hand sah völlig unversehrt aus, alles war gut. Doch die Frauen schwirrten panisch um das Kind herum. Sie tasteten es am ganzen Körper ab, wiegten es hin und her, flüsterten tröstende Worte."

Und das - man stelle sich das mal vor! - obwohl das Kind (so vermutet es zumindest die Autorin) augenscheinlich "alles gut" ist. Dass man weder beurteilen kann, wie schlimm irgendetwas tatsächlich ist und warum man Kinder immer trösten sollte, dazu hatten wir ja kürzlich schon ausführlich geschrieben. Der Gedanke, dass Kinder abgehärtet werden müssen und durch zu viel Trost nicht verweichlicht werden sollten, entspringen der schwarzen Pädagogik.

An dieser Stelle fragte ich mich, ob Frau Hoffmann denn überhaupt Kinder hat, wenn sie die Vorstellung, ein (2-3-jähriges!) weinendes Kind sofort zu trösten, seltsam findet - selbst wenn sich das Kind rein gar nichts getan haben sollte. Ich jedenfalls hoffe von Herzen, dass sich die Erzieherinnen in unserer Kita meinen Kindern liebevoll zuwenden, wenn sie diese Zuwendung brauchen - sei es nach einer Verletzung oder sonstigem Kummer.

Wir verweichlichen also unsere Kinder, wenn wir erwarten, dass man in der Kita auf unsere Kinder achtet und sie getröstet werden, wenn sie unglücklich sind? Was genau wünscht sich die Autorin? Dass Erzieher in solchen Fällen statt zu trösten lieber "Nun hab dich doch nicht so!" sagen oder dass Eltern verletzter Kinder beim Abholen vollkommen gelassen sagen: "Ach - ist ja nicht so schlimm!"?

Danach erinnert sich Sabrina Hoffmann an ihre eigene Kindheit, deren Pädagogik sie als "rückblickend grausam" beschreibt. Die von ihr besuchte Kita trug Züge einer "kommunistischen Diktatur". Sie beschreibt, dass die mitgebrachte Milchschnitte zwangsenteignet und an alle Kinder verteilt wurde, dass sie ewig auf dem Töpfchen ausharren musste und wie sie gezwungen wurde, ein Bund Petersilie zu essen - bis sie es erbrach. 

Resümierend stellt die Autorin erstaunlicherweise fest, dass sie jedoch keine Schäden davon getragen habe und es sie vielleicht sogar "stärker gemacht" habe. Und wir, liebe Eltern, sind schuld, dass unseren Kindern solche Erlebnisse womöglich erspart bleiben muss, wenn wir sie verweichlichen, in dem wir auf Töpfchentraining verzichten oder dieses altmodische Baby-led Weaning - womöglich noch mit Bio-Gemüse! - machen. Weil wir sie zu sehr beschützen! Und zu viel behüten! 

Stattdessen sollen Kinder bitte Furcht erleben! So, wie die Autorin - die über ihre Reitstunden in der Kindheit schrieb:
"Damals stand der Reitlehrer mit Korn-Fahne in der Mitte der Halle, schwang seine Peitsche und brüllte: "Galopp marsch!"Ich fürchtete nichts mehr als diesen Moment, denn jedes Mal ging eines der Pferde durch - und die anderen folgten ihm. Und doch liebte ich diese Stunde im Sattel inbrünstig. Die Zähne zusammenbeißen, meine Angst überwinden, sattelfest werden - das waren die Dinge, die ich dort lernte. Und ich bin dankbar dafür. Nach jedem Sturz stieg ich sofort wieder auf. Das war die wichtigste Lektion, die der Reitlehrer uns beibrachte. Für den Reitplatz und für das Leben."

Überbehütende Eltern verhindern also, dass ihre Kinder von trunkenen, peitscheschwingenden Reitlehrern angeschrien werden? Und verhindern damit pauschal, dass Kinder dadurch Durchhaltevermögen "erlernen"? Muss man erst vom Pferd überrannt oder von einem Huf getreten werden, um wirklich stark und hart zu werden? Muss man das? Will man das?

Aber Übertreibung macht bekanntlich anschaulich, weswegen im Folgenden reichlich Klischees bedient werden. Früher war alles besser - da durften Kinder noch Apfelsaft pur trinken! Lächerlich, wer sich heute Gedanken um die Zahngesundheit macht. Und dieser Hype um die Babynahrung - die paar Schadstoffe haben doch bisher auch keinen umgebracht (vermutlich). Und diese Eltern erst, die Schulranzen tragen - diese kiloschweren Monster, die heutzutage deutlich mehr, als die 15 % des Körpergewichts enthalten, weil Schulen nicht in der Lage sind, Spinde anzubieten. Da sorgen sich die Eltern allen ernstes um die Rückengesundheit ihrer Kinder, wie albern! 

Was sollen denn die Orthopäden in den nächsten 30 Jahren machen, wo sie doch gerade so gut mit uns zu tun haben - wir, die wir unsere Ranzen noch tapfer selbst geschleppt und die Zähne gefälligst zusammengebissen haben! Und sich keiner Gedanken um möglichst passendes Schuhwerk oder die richtigen Sitzmöbel gemacht hat! Nein - wer sowas macht, handelt offenbar vielmehr grob fahrlässig: 
"Ihr hüllt eure Kinder in einen Kokon, der sie beschützen soll - und ihnen die Chance raubt, die Welt kennen zu lernen. Ihr seht überall eine Bedrohung, auch dort wo keine ist."

Genau früher durften Kinder schließlich auch noch "ohne Helm, Knie-, Hand-, Ellenbogenschoner und Rippenschützer und Reflektoren" Radfahren! Was da erst für ein Gewese gemacht wird. Gut - pro Jahr sterben durch Unfälle mittlerweile 600 Kinder weniger im Jahr, als 1980, als man auch noch ohne Autositz der Gefahr tapfer mitten ins Gesicht blickte - aber hey - was solls? 

Den Höhepunkt der Übertreibung unserer heutigen Müttergeneration beschreibt Frau Hoffmann so:
"Eine Freundin erzählte mir einmal, dass sie das Baby von Bekannten nicht halten durfte, weil sie davor eine Zigarette geraucht hatte. Natürlich nicht in Gegenwart des Kindes. Aber es hätten Nikotin-Reste an ihren Fingern kleben können. Kommt euch das nicht auch ein bisschen albern vor, liebe Eltern? "
Nein - ganz und gar nicht. Dabei nun wirklich am allerwenigsten! Denn als augenscheinlich in Ihren Augen völlig überfürsorgliche Mutter habe ich mich nämlich informiert, wie schädlich der sogenannte Thirdhandsmoke für Babys tatsächlich ist! Und wie gefährlich Nüsse für Babys sind oder Honig oder ätherische Öle - daran sterben jährlich durch die alberne "Überbehütung" gottseidank immer weniger Kinder.
In den dann folgenden Ausführungen wird klar, worum sich die Autorin in Bezug auf die Kinder der überbehütenden Mütter sorgt:
"Doch was werden sie tun, wenn sie in der Wirklichkeit angekommen sind? Das Leben ist manchmal hart und sie werden sich durchsetzen müssen. Die Welt hält nicht an, damit eure Kinder aufholen können."

Wer macht denn das Leben hart? Und gestaltet denn die Wirklichkeit? Wer genießt es in einem leistungsorientierten Umfeld zu leben, in dem nur wenige Erfolg haben - und auch nur dann, wenn sie irre hart arbeiten? Ich will nicht, dass meine Kinder in zwanzig Jahren resümieren: "Das Leben ist so hart!" - ich möchte, dass sie feststellen: "Das Leben ist schön!" Meine Aufgabe als Mutter ist es nicht, meine Kinder möglichst anpassungsfähig zu erziehen, sondern sie stark zu machen, dass sie die Welt bewegen. Dazu brauchen sie Rückhalt und Geborgenheit und es ärgert mich, wenn das mit "Verweichlichung" gleichgesetzt wird.

Die Autorin beendet ihren Artikel mit der Frage:
"Vielleicht würde es Kindern helfen, wenn wir sie wieder mehr wie normale Menschen behandeln. Wenn wir uns an unsere eigene Kindheit erinnern und daran, dass all die Gefahren damals gar nicht so bedrohlich wirkten."

Was macht Kinder wirklich stark?


Unseren Kindern hilft vor allem, wenn wir ihnen in dieser emotional zunehmend verkümmerten Gesellschaft Halt geben. Wenn wir ihnen zeigen, dass wir für sie da sind, sie trösten, wenn sie unsern Trost brauchen, ihnen Zuwendung zukommen lassen und sie einfach lieben, für das, was sie sind, nicht für das, was sie tun.

Liebevolle Aufmerksamkeit verzieht unsere Kinder nicht. Sie vor realen Gefahren zu beschützen, verweichlicht sie nicht. Kein Kind lernt durch einen Schädelbruch, dass man im Krankenhaus auch einfach mal ein paar Wochen durchhalten muss. Kein Kind fühlt sich weniger frei, weil es einen Helm beim Radfahren trägt oder einen nüchternen Reitlehrer hat.

Um es ganz klar zu sagen: Ich verstehe, was die grundsätzliche Intention dieses Artikels ist - die Autorin beobachtet Mütter, die auf Schritt und Tritt ihre Kinder überwachen und kontrollieren. Es gibt tatsächlich solche Mütter - sie werden "Helikopter-Eltern" genannt. Diese Helikopter-Eltern sind jedoch nur eine sehr kleine Randerscheinung in der Gesellschaft. 

Leider werden im Artikel diese (wenigen) Fälle mit einer weiter verbreiteten Erscheinung in einen Topf geworfen - dem zunehmenden Interesse der Eltern an den kindlichen belangen. In den letzten Jahren ist - vor allem Dank des Internet - tatsächlich zu beobachten, dass Eltern sich mehr und mehr mit damit auseinander setzen, was für ihre Kinder das Beste ist. Allerdings kann ich dabei keine negativen Effekte erkennen - kein Kind wird "überbehütet" oder "gefährdet", weil es Schorle oder Wasser statt Saft trinkt, im ersten Lebensjahr kein Zucker bekommt oder einen Teddy aus Biobaumwolle. Überlegungen dazu anzustellen, ob nun Karotten oder Zucchini das beste Gemüse für die Beikosteinführung ist oder ob man das Kind in eine Schule ohne Noten schickt, ist keine problematische "Überbehütung", sondern ein Abwägen von Tatsachen, das der Eine mehr, der Andere weniger intensiv betreibt, ohne das Kind dabei zu beeinträchtigen.

Kinder, die plump vom Pferd fallen sind nicht Opfer des Fahrradhelmtragens oder der Schulwegbegleitung, sondern von Bewegungsarmut. Diese kann tatsächlich davon verursacht werden, dass Eltern ständig überbehütend neben ihren Kindern stehen und rufen: "Gib acht! Pass auf! Vorsicht! Nein, mach das lieber nicht!" Dadurch wird die motorische Entwicklung von Kindern nachhaltig beeinträchtigt - das ist definitiv eine Überbehütung - die durchaus vorkommt, aber wirklich sehr selten ist.

Bewegungsmangel ist jedoch in den meisten Fällen durch ein ganz anderes, viel häufigeres Problem verursacht -  der Unterbehütung. Dabei werden Kinder schon früh und regelmäßig vor dem Fernseher oder der Spielekonsole abgeparkt, damit sie möglichst leise sind und wenig anstrengen(d). Diesen Eltern zu sagen: "Überbehütung schadet unseren Kindern" führt dazu, dass diese sich in ihrem Handeln bestätigt fühlen und so ihre Unaufmerksamkeit vor sich selbst rechtfertigen können.


Der Bewegungsmangel wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass heutzutage kaum noch freie Flächen für Kinder zum Spielen zur Verfügung stehen. Und noch schlimmer ist: Dass kaum Kinder zum Spielen da sind - die werden nämlich fleißig von ihren Eltern auf die harte Welt da draußen vorbereitet, in der sie bestehen müssen. Sie werden gefordert und gefördert und dürfen kaum noch Kind sein. Ob sie dabei Biobrause trinken oder auf ergonomisch korrekten Stühlen sitzen, ist doch vollkommen irrelevant.

Nein - Kinder sind in unserer Gesellschaft nicht überbehütet. Man bringt ihnen eher viel zu wenig Interesse, Empathie uns Aufmerksamkeit entgegen. Zu tolerieren, dass ein Kind gegen seinen Willen auf einen Topf gesetzt wird oder essen muss, bis es erbricht, zeigt recht eindrucksvoll, wie sehr uns unsere eigene Erziehung geschadet hat. Sie hat dafür gesorgt, dass wir es als normales Erziehungsziel betrachten, unsere Kinder für die Gesellschaft abzuhärten. Wir legen mehr Wert darauf, dass unsere Kinder funktionieren, als dass sie sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln. Kinder müssen dafür nicht "scheitern" oder "durchhalten" lernen, sie müssen dafür liebevoll und empathisch begleitet werden.

Artikel wie der von Sabrina Hoffmann machen Eltern auf subtile, unterschwellige Weise Angst vor dem Verwöhnen, dem Verhätscheln oder dem Verweichlichen. Das kann dazu führen, dass sie weniger aufmerksam und liebevoll sind oder ihre Unterstützung vorsätzlich verweigern, um in ihrem Umfeld nicht als Übermutter zu gelten.

In diesem Sinne: Gebt ruhig auf Eure Kinder acht - Fürsorge verweichlicht nicht, sie stärkt.

© Danielle



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