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Fremdeln - Warum Kinder fremdeln und wie man sie liebevoll unterstützt

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Benjamin Thorn  / pixelio.de
In den ersten Lebensmonaten sind Babys (oft im Gegensatz zu ihren Müttern) relativ flexibel, wenn es darum geht, in wessen Armen sie liegen. Sie lassen sich in der Regel von fast allen Personen füttern, wickeln und trösten. Erst im Alter ab etwa 4 bis 5 Monaten beginnen die Kinder unruhig zu werden, wenn fremde Menschen sie in den Arm nehmen. Das Baby hat gelernt, zwischen "vertraut" und "fremd" zu unterscheiden - ein wichtiger Entwicklungsschritt! Ab etwa 6 Monaten reicht oft schon ein intensiverer Blick fremder Menschen aus, dass Babys ängstlich Schutz bei den vertrauten Eltern suchen. Der Höhepunkt des Fremdelns ist im 8. Monat (weswegen es auch als "Achtmonatsangst" bezeichnet wird) - ganz sensible Babys lassen sich nunmehr ausschließlich von Mama oder Papa betreuen und brechen zum Teil regelrecht in Panik aus, wenn andere Personen mit ihnen in Kontakt treten. 

Für Eltern ist diese Reaktion oft unverständlich und auch gelegentlich unangenehm Fremden und vor allem Bekannten und Verwandten gegenüber. Es besteht jedoch kein Grund zur Sorge: es handelt sich dabei um eine vollkommen normale Reaktion sicher gebundener Kinder. Die Zurückhaltung wird mit etwa 15 bis 18 Monaten deutlich weniger und verschwindet meist vollständig im Alter von etwa 2,5 bis 3 Jahren. Die Ausprägung kann sich von Kind zu Kind stark unterscheiden - bei manchen ist das Fremdeln kaum erkennbar, andere hadern sehr lange mit Fremden. Auch das Temperament des Babys hat einen maßgeblichen Einfluss - zurückhaltende, schüchterne Babys fremdeln stärker, als die kontaktfreudigen und aufgeschlossenen Altersgenossen. Man sollte sich jedoch dessen bewusst sein, dass man auf das Fremdelverhalten so gut wie keinen Einfluss hat, daher kann es auf keinen Fall als erzieherisches Versagen betrachtet werden. Manche Eltern sorgen sich sogar über das Ausbleiben des Fremdelns - doch kaum ein Baby wächst auf, ohne jemals zu fremdeln. Allerdings ist das Verhalten bei manchen Babys so gering ausgeprägt, dass die Eltern es kaum bemerken.
 
 

Warum fremdeln Kinder?

 
 
Evolutorisch lässt sich dass Fremdeln auf zweierlei Weise erklären - zum einen ist es eine natürliche Schutzreaktion des Körpers, die zeitlich mit dem durchschnittlichen Zeitpunkt der ersten motorischen Fortbewegungsversuche zusammenfällt. Bisher kam das Baby keinen Millimeter vorwärts und sorgte stets dafür, dass es in Mamas greifbarer Nähe blieb. Mit etwa 8 Monaten setzt der Explorationsdrang ein, das Kind will erforschen, den Raum erkunden und muss sich dafür naturgemäß weiter von der Mutter weg bewegen, als je zuvor. Dadurch begibt es sich in Gefahr, es muss also über Schutzmechanismen verfügen, die es davor bewahren, zu weit weg zu krabbeln oder gar außerhalb der Sichtweise der Mutter einfach von Fremden weg genommen zu werden. Daher ist es am sichersten, beim Anblick fremder Menschen sofort Alarm zu geben, auf dass Mama sofort herbeieile und das Kind beschütze.
 
Experimente haben gezeigt, dass Männer am heftigsten angefremdelt werden (bärtige Männer stärker, als rasierte), Frauen lösen weniger heftige Reaktionen aus - gegenüber Kindern bleiben die meisten Babys gelassen. Es wird daher vermutet, dass Fremdeln auch eine evolutorische Schutzreaktion vor dem Infantizid (also der Tötung von Kindern) ist. Dieser ist bei den meisten Primaten weit verbreitet - kommen neue männliche Tiere ins Rudel, ist es nicht selten so, dass bis zu 40% der noch gesäugten Kinder getötet werden, um in Hinblick auf knappe Ressourcen die Überlebenschancen des eigenen Nachwuchses zu erhöhen.
 
 

Kann, soll oder muss man etwas gegen das Fremdeln tun?

 
 
Nein - es wird sich früher oder später von selbst verlieren - je mehr man dabei auf das Kind eingeht, desto zügiger kann das gehen. Zwar ist man geneigt, dem Kind immer wieder zu versichern dass "Onkel Heinz doch ganz lieb" sei - beschwichtigen kann man mit der Versicherung jedoch allenfalls Onkel Heinz. Man sollte unbedingt als "sicherer Hafen" für das Kind fungieren - wann immer es Schutz sucht, sollte dieser angeboten werden - auch wenn man vom Verhalten des Kindes genervt ist oder nicht versteht, warum es sich "so anstellt". Je verlässlicher man reagiert, um so sicherer wird sich das Kind fühlen und umso schneller wird die Angst vergehen. Und es ist tatsächlich Angst - kein Schauspiel. Beschwichtigungen führen unter Umständen dazu, dass sich das Kind nicht ernst genommen fühlt oder das Gefühl entsteht "etwas Falsches" zu tun oder zu empfinden, wodurch die Entwicklung eines "falschen Selbst" begünstigt werden kann (mehr dazu in "Wenn Eltern wütend werden").

Keinesfalls sollte man als Konfrontationstherapie aus der Motivation heraus "dem Kind zu zeigen, dass nichts Schlimmes passiert" das Baby einfach anderen in den Arm drücken - auch wenn Oma Sabine das noch so sehr einfordert - das würde das Baby heillos überfordern und ängstigen. Wenn möglich, sollte auch darauf verzichtet werden, dass der Angefremdelte immer wieder Kontakt suchend auf das Baby zugeht. Das ist nämlich die häufigste Reaktion angefremdelter Erwachsener - die halten das Benehmen des Kindes unbewusst für einen ärgerlichen Fehler und wollen ihm die Chance geben, den schnell "wieder gut" zu machen. Stattdessen wird sich das Kind schnell bedrängt fühlen und immer heftiger reagieren - was die Oma unter Umständen noch eifriger macht beim Versuch, das Kind endlich zum Lächeln zu bewegen. Die Aufgabe der Mutter sollte es sein, diesen Kreislauf zu unterbrechen und klar zu machen, dass das Kind Zeit bekommen sollte, vom sicheren Schoß der Mutter aus von sich aus den Kontakt zu suchen - oft reicht eine kurze Zeit des Beschnupperns aus, damit das Baby Vertrauen fasst und im Laufe des Tages doch noch glücklich glucksend auf dem Schoß der Oma oder des Onkels sitzt. Auch ein interessanter Gegenstand ist zur Kontaktaufnahme geeignet - er kann das Interesse des Baby wecken, sollte jedoch nicht aufgedrängt werden.

In jedem Falle sollte dem angefremdelten Erwachsenen erklärt werden, dass das Baby gerade eine normale, altersgerechte zurückhaltende Phase hat und darum gebeten werden, darauf Rücksicht zu nehmen. Man kann deutlich sagen, dass das Fremdeln keine Ablehnung ist, sondern eine nicht auf die Person sondern die Situation bezogene Angstreaktion.

Schon in dieser frühen Lebensphase ist eine grundsätzliche Respektierung der körperlichen Grenzen sinnvoll - schließlich möchte man den Grundstein für ein gesundes Selbstbewusstsein legen und die Fähigkeit fördern, dass Kinder in der Lage sind, andere stets zur Einhaltung der körperlichen Grenzen aufzufordern. Kinder, deren Persönlichkeitssphäre schon als Baby akzeptiert wird, fällt es später leichter, diese auch später bei Unbekannten einzufordern.

Andrea Zachert / pixelio.de
Fremdeln lässt sich lediglich etwas abschwächen - wenn das Baby es gewohnt ist, von Kleinauf bei verschiedenen Menschen auf dem Arm zu sein und damit schon positive Erfahrungen gesammelt hat, wird es wahrscheinlich weniger ausgeprägt fremdeln, als ein Baby, das wenige soziale Kontakte (zu anderen Erwachsenen) hat. Wenn Mama offen und kontaktfreudig auf andere Menschen zugeht, wird sich das mit großer Wahrscheinlichkeit zum Teil auch auf die Fremdelintensität auswirken.

Fremdeln ist vor allem auch eine Angst vor der Trennung von Bezugspersonen - man kann kleinere Trennungen mit dem "Guckguck"-Spiel üben - dabei versteckt sich Mama hinter einem Tuch und fragt erstaunt "Wo ist die Mama?". Nach wenigen Sekunden kommt sie laut "daaaa!" rufend hinter dem Tuch vor. So lernt das Kind: Selbst wenn ich Mama mal nicht sehen kann, ist sie dennoch da und ist bald schon wieder zu sehen. Die meisten Kinder werden bei diesem Spiel schnell selbst aktiv indem sie das Tuch wegziehen und sich freuen, Mami selbst gefunden zu haben. Wenn das Kind krabbelt, kann man beginnen, in der Wohnung Verstecken zu spielen - die meisten Babys haben einen Heidenspaß, Mamas unter dem Tisch oder hinter dem Sofa zu finden. Nach und nach können so die Zeiten, in denen Mama nicht zu sehen ist, auch ausgedehnt werden - so gewöhnt sich das Kind allmählich an kleinere Trennungen - und verknüpft diese positiv mit dem wohligen Gefühl kribbliger Erwartung des Wiedersehens.

Wegen der sich im Fremdelalter entwickelnden Trennungsangst sollte man sich stets verlässlich von seinem Kind verabschieden. Es reizt - gerade in dieser Phase - schnell mal zu verschwinden, um Tränen zu vermeiden, weil das Kind die Trennung nicht (sofort) zu realisieren scheint, während beim Tschüss-Sagen bittere Tränen fließen. Das führt jedoch dazu, dass sich die Kinder nicht mehr sicher sind, ob Mama wirklich dauerhaft verlässlich da ist und sie beginnen, sich ständig rückzuversichern und stark zu klammern, damit Mama nicht mehr unbemerkt verschwindet. Wenn man sich jedes Mal ausdrücklich verabschiedet, wenn man geht, gibt es sicher gelegentlich Tränen, aber für Kinder ist es wichtig, dass sie sich auf ihr Bezugspersonen verlassen können - sobald sie realisieren, dass Mama auch verlässlich wieder kommt, werden die Trennungen leichter.
 
 

Der Einfluss des Fremdelns auf den Schlaf

 
 
Oft schlafen Kinder in der Fremdelphase deutlich schlechter, als zuvor. Das Baby begreift allmählich: Der Schlaf trennt mich von meinen Eltern! Trennungen werden von Kindern immer als potentiell gefährlich eingestuft - sie fühlen sich damit extrem unwohl. Die abendliche Trennung etwas vereinfachen kann man mit einem festen Abendritual. Dabei sollte ein ruhiger, täglich gleicher Ablauf entwickelt werden, bei dem sich das Kind mental darauf einstellen kann, dass nun Schlafenszeit ist.

Viele Baby beginnen nun intensiv zu träumen und wachen öfter erschrocken auf, da sie zwischen der Real- und der Traumwelt noch nicht unterscheiden können. Außerdem müssen die für die Babys neuen Ängste des Tages verarbeitet werden - bei vielen Kindern führt auch das zu extrem häufigem Aufwachen in der Nacht. Wenn Dein Baby im Stundentakt aufwacht und sich nur noch durch die Brust/Flasche/Wiegen beruhigen lässt, kann Dir vielleicht dieser Artikel und die dort beschriebene Methode des "sanften Ablösens" weiter helfen. 

jokerbomber / pixelio.de
Die Veränderung des Schlafverhaltens ist normal und wird sich auch wieder geben - das Sinnvollste ist es, dem Baby zu geben, was es braucht - Nähe und Zuwendung. Schläft es in seinem eigenen Zimmer, bietet es sich an, vorübergehend dort eine Matratze für die Eltern hinzulegen. Am einfachsten übersteht man die Phase jedoch, wenn man das Kind ins Elternbett oder wenigstens ins elterliche Schlafzimmer holt, dort kann es sich jederzeit der Anwesenheit der beschützenden Erwachsenen versichern und der Schlaf wird für alle Beteiligten geruhsamer.

Babys sind einfach dafür konzipiert, nicht alleine zu schlafen - ständiges Aufwachen und schauen, ob Mama und/oder Papa da sind, ist ein vollkommen natürliches Verhalten, das sich durch Reife früher oder später ändern wird. Es ist nur eine Phase, es ist nur eine Phase, es ist nur eine Phase! Und verkürzen lässt sie sich, wenn das Urvertrauen des Kindes gestärkt wird, indem man umgehend auf alle seine Bedürfnisse reagiert. Auch wenn das Umfeld in dieser Phase oft meint, man solle das Kind mal schreien lassen, da es nun alt genug sei, ist dies auf keinen Fall zu empfehlen (mehr dazu in diesem Artikel) - stell Dir vor, Du stehst im Dschungel, umgeben von Tigern und Hyänen und schreist aufgelöst nach Hilfe - was würdest Du empfinden, wenn Dein Mann kurz vorbei kommt, Dir den Kopf tätschelt, sagt "Beruhige Dich" und dann wieder geht - damit Du Dich selbst regulierst und lernst, allein mit der Situation klar zu kommen? Und wenn er das zwanzig mal gemacht hat, dabei die Abstände immer größer werden und er letztendlich doch immer wieder geht, dann wirst Du auch aufhören, nach ihm zu schreien. Weil Du denkst, dass er Dir ohnehin nicht hilft - aber hast Du denn auch weniger Angst? Schreien lassen funktioniert - aber um welchen Preis?

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