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"Menschenkinder - Plädoyer für eine artgerechte Erziehung" - Herbert-Renz Polster

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Bei wenigen Themen scheiden sich die Geister so stark, wie bei der Frage, ob man lieber ausschließlich nach "Bauchgefühl" erzieht oder unter Zuhilfenahme von Fachliteratur (was ja eine eine gesunde Portion Bauchgefühl dennoch nicht ausschließt). Wir selbst beschäftigen uns gerne und ausführlich mit allen möglichen Erziehungsansätzen und -theorien, daher wollen wir dem Wunsch nachkommen, in unserem Blog auch gelegentlich ein Buch dieser Kategorie vorzustellen. Bei der Fülle an angebotenen Bücher kann man schon mal etwas überfordert vor dem Regal in der Buchhandlung stehen oder vor 69.238 Suchergebnissen beim Stichwort "Erziehung" bei Amazon. Daher bietet eine kurze Rezension ggf. eine Entscheidungshilfe für den einen oder anderen, ob der grundsätzliche Ansatz des Autors potentiell interessant sein könnte und das Buch somit eine hilfreiche Unterstützung für die eigene Erziehung sein könnte.

 

"Menschenkinder - Plädoyer für eine artgerechte Erziehung" - Herbert Renz-Polster


Herbert Renz-Polster hat meine persönliche Ansicht zum Thema Erziehung grundlegend beeinflusst. Das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe war "Kinder verstehen - Born to be wild", ein sehr ausführliches Standardwerk (512 große Seiten), das ich jedem nur wärmstens empfehlen kann. "Menschenkinder" ist quasi teilweise die Kurzfassung (192 kleine Seiten) seiner Betrachtungen für alle, die es knackig mögen und nicht allzu sehr an Details interessiert sind. Eines der beiden Bücher sollte jede frische oder werdende Mama meiner Meinung nach gelesen haben - es wird ihr vor allem im ersten Lebensjahr sehr helfen.
 
Renz-Polsters Bücher sind keine Erziehungsratgeber im herkömmlichen Sinne - der Ansatz des Autors ist die rein evolutorische Betrachtung des Kindseins: Wohin es gehen soll, weiß nur, wer weiß, woher wir kommen. Kinder werden als perfektes, über Jahrtausende durch die Evolution geformte Wesen betrachtet, deren Eigenschaften und Verhaltensweisen ein Portfolio beinhalten, die sich in den letzten 100.000 Jahren bewährt haben. Die Entwicklung aller Kinder auf der Welt läuft nach dem gleichen Muster ab - daher handelt es sich ganz offenbar um ein Erfolgsrezept, das man verstehen, nicht bekämpfen muss. Das Buch behandelt daher keine Strategien/Konzepte, um Kinder zu erziehen, es soll ausschließlich einen Perspektivenwechsel anregen und erklären, warum Kinder sich so benehmen, wie sie es tun und warum das in jedem Falle sinnvoll ist, auch wenn es uns manchmal unverständlich ist und nervt.
 
Ursache für die Verunsicherung in Bezug auf die Erziehung ist laut Renz-Polster maßgeblich Angst. Angst vor dem Verwöhnen (nur die "Abgehärteten" haben Erfolg, weiche Erwachsene versagen in der Gesellschaft), die Angst Tyrannen groß zu ziehen, nicht perfekt genug zu sein oder nicht genug zu fördern. Aber alle diese Ängste sind unberechtigt - das Eingehen auf Bedürfnisse wie Nähe ist kein Verwöhnen, sondern evolutorische Prägung. Die Menschen wurden erst vor ein paar Tausend Jahren sesshaft - davor zogen sie als Wandervölker durch die Gegend. Kinder, die nicht ständig einforderten, am Körper getragen zu werden, liefen Gefahr, vergessen oder gefressen zu werden. Auch ein Tyrannen-Dasein ist grundsätzlich von der Natur nicht vorgesehen - warum sollten Kinder sich gegen die Erwachsenen richten, die ihr Überleben sichern? Sie sind auf Kooperation angewiesen, weswegen sie nicht von Grund auf "böse" sein können. Daher ist die Angst, Tyrannen groß zu ziehen, unberechtigt. Perfektion ist nicht erforderlich - die Evolution hat mögliche Fehler einkalkuliert - Irrtümer in normalem Umfang werden keine Erziehung ruinieren. Auch aktive Förderung ist von der Natur nicht vorgesehen (bis vor 200 Jahren ging es vor allem ums Überleben - für gezielte Förderung war gar keine Zeit).
 
Es ist gar nicht erforderlich, Kinder zu Selbständigkeit und Unabhängigkeit "zu erziehen", da das Kind von Natur aus danach strebt - in der Regel spätestens dann, wenn der Zeitpunkt kommt, wo der Platz in Mamas Arm für ein Geschwisterchen geräumt werden muss/müsste. Da Mama keine Kapazität hat, ständig mehrere Kinder zu tragen, bereitet sich das Kind ab etwa 18 Monaten auf seine Autonomie vor - indem es nachdrücklich alles selbst machen will. Das ist seine Vorbreitung für die Zukunft in Kleinkindergruppen, wo in seiner Sozialität geprägt wird.
 
Renz-Polster erklärt in seinem Buch auch, warum Kinder kein Gemüse essen (weil sie nach dem Motto handeln: "Iss nur was Du kennst und bitter ist potentiell giftig"), auch als Kleinkinder noch gerne getragen werden wollen (in der Regel, wenn sie müde sind und die Gefahr besteht, dass die zurückfallen könnten und dann schutzlos wären) oder ständig dazwischen plappern (Aufmerksamkeit auf sich selbst richten - so verpasst Mama keine gefährliche Situation).
 
Die evolutorische Betrachtung erklärt auch, warum die Pubertät so konfliktbehaftet ist - war sie doch von jeher der Höhepunkt der Entwicklung, der Kreativität und des Erforschungsdrangs. Durch das starke Setzen von Grenzen (vornehmlich) zu ihrem Schutz wird das Kind eingeengt und die Kinder sind überfordert von der Diskrepanz zwischen Wollen und Können.
 
Renz-Polster stellt fest, dass jedes Kind einer anderen Erziehung bedarf - das Kind im Plattenbau in einem Problemviertel in Berlin einer anderen, als das Kind zweier Akademiker im Münchener Vorort oder das Kind chinesischer Reisbauern. Daher ist Erziehung eine ständige Neuerfindung ohne Patentrezept, die dennoch immer auf den selben Ur-Elementen basiert. Er analysiert außerdem, warum es derzeit keine wirklich artgerechte Umgebung für Kinder gibt (weil es das Dorf, das es braucht, um Kinder zu erziehen, so nicht mehr existiert) und was man tun könnte, um das zu verbessern. 
 
 

Fazit

 
 
Das Buch von Renz-Polster ist ein interessanter kurz gefasster Exkurs in die evolutorische Betrachtung der Erziehung und eine Analyse der Schwachstellen der heutigen Gesellschaft. Es handelt sich dabei nicht um einen klassischen Erziehungsratgeber im Sinne von "Will ich A erreichen, kann ich das mit B unterstützen" sondern es betrachtet einfach das "Warum sich Kinder so benehmen, wie sie es tun und warum das gut und richtig ist, nur zunehmend schwieriger zu handhaben".

Wenn einem dieser Ansatz gefällt, kann ich nur wärmstens das umfangreichere und wirklich kurzweilig und sehr unterhaltsam geschriebene "Kinder verstehen - Born to be wild" empfehlen - für mich persönlich eines der aufschlussreichsten Bücher (einfach mal ein bisschen bei Amazon rumblättern, ob das etwas für einen ist).





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